17. Jahrgang | Sonderausgabe | 11. August 2014

Heroisches Elend

von Bernhard Mankwald

Eine Erinnerungskultur, die sich mit Vorliebe an Jahrestagen orientiert, beschert uns zur Zeit eine reiche Auswahl an Titeln über den Ersten Weltkrieg. Ein Werk, das sein Thema in einer derart umfassenden Weise behandelt wie das hier vorgestellte, wird man darunter aber wohl lange suchen müssen. Übrigens wird auch nicht leicht ein umfangreicheres zu finden sein; zwei stattliche Bände mit mehr als 1.600 Seiten laden zur Lektüre ein. Was auf ihnen zu finden ist, kann in diesem Rahmen nur angedeutet werden – mit aller Objektivität, die ein Autor aufzubringen vermag, der selbst mit einem Beitrag über „Tucholskys Kampf gegen den Militarismus“ an diesem Projekt beteiligt ist. Immerhin hat dies den Vorteil, dass ich zwar nicht die Texte, wohl aber das Konzept der Publikation schon seit Jahren kenne.
Das Thema des Buches ist nicht der Krieg selbst, sondern laut Untertitel die Art, wie er sich „im intellektuellen, literarischen und bildnerischen Gedächtnis der europäischen Kulturen“ niederschlägt. Was das inhaltlich bedeutet, kann hier nur skizziert und an ausgewählten Beispielen verdeutlicht werden. Welche Fülle verschiedener Perspektiven die Bände bieten, deutet bereits der dreisprachige Titel an: „Heroisches Elend – Misères de l’héroïsme – Heroic Misery“. In diesen drei Sprachen sind auch die Beiträge zu annähernd gleichen Teilen verfasst; die Autorinnen und Autoren stammen aus einer Vielzahl von Ländern. Wir erfahren also nicht nur, wie der Krieg auf die beteiligten Nationen wirkte, sondern auch, welche Sympathien und Antipathien er im neutralen Spanien hervorrief, oder wie er sich in der schwedischen, griechischen, italienischen Literatur niederschlug.
Umfassend ist auch das Konzept der Publikation. Der Historiker Arnd Bauerkämper schildert, wie sich die Kultur der Erinnerung im Laufe der Zeiten gewandelt hat, der Germanist und Philosoph Bernd Hüppauf macht sich Gedanken über „Gefühle und Töten im Krieg“. Unter den schriftlichen Zeugnissen nehmen zeitgenössische Texte einen breiten Raum ein: Tagebücher, Briefe, Zeitungen, die von Soldaten für ihresgleichen herausgegeben wurden. Die „offizielle“ Erinnerungskultur bis hin zur Darstellung in Schulbüchern ist Thema weiterer Beiträge.
Ein anderer Schwerpunkt ist die Haltung der Intellektuellen von den zahlreichen Befürwortern des Krieges bis zu den Versuchen, Feindbilder zu überwinden und eine Versöhnung über die Gräben hinweg zu erreichen. In einem Buch solchen Titels dürfen natürlich auch „Helden“ wie der Flieger Manfred von Richthofen nicht fehlen, dessen sehr wirksame Selbstdarstellung kritisch unter die Lupe genommen wird; mit gleichem Gewicht stehen ihnen „Heldinnen“ gegenüber, die etwa durch Krankenschwestern und Lehrerinnen repräsentiert werden, aber auch durch zwei Journalistinnen, die von den einander gegenüber liegenden italienischen und österreichischen Frontlinien berichteten. Zu Wort kommt schließlich auch die Psychoanalyse in zwei Beiträgen über den Einfluss des Krieges auf die Theoriebildung Sigmund Freuds und über die pazifistische Wende Ernst Barlachs.
Literatur im „klassischen“ Sinne – Lyrik, Theater, Roman – ist selbstverständlich ebenfalls durch zahlreiche Beiträge vertreten. Namen wie Ernst Jünger, Gottfried Benn, Bertolt Brecht werden dem deutschen Publikum geläufig sein, Autoren wie Jean-Richard Bloch, Jean Giono, Stratis Myrivilis bleiben zu entdecken. Aber auch nichtliterarische Medien werden zum Thema: Von der Malerei, die in mehreren Beiträgen auch durch Abbildungen veranschaulicht wird, über Musik und Film bis hin zu den packenden Comics, in denen Jacques Tardi das Thema behandelt hat.
Diese wahrhaft internationale Auswahl von Themen wird in adäquater Weise behandelt. Das Besatzungsregime, von dem nach dem Kriegsverlauf im Westen ja vor allem Belgien und Frankreich betroffen waren, wird aus der Perspektive dieser Länder in Beiträgen dargestellt, die dem deutschen Leser viel Stoff zum Nachdenken bieten. Zwei so unterschiedliche Bestseller wie die Bücher von Walter Flex und Erich Maria Remarque werden vom britischen Germanisten Brian Murdoch in seiner Muttersprache behandelt; eine Perspektive, die einen neuen Blick auf deutsche Selbstverständnisse verspricht. Von der deutschen Autorin Angela Barwig erfahren wir dafür, dass der Krieg seine Spuren auch in einem scheinbar weit davon entfernten Genre wie dem englischen Kriminalroman hinterlassen hat. Die Art schließlich, in der die expressionistischen Künstler das Trauma des Krieges verarbeitet haben, wird von der französischen Germanistin und Slawistin Alexia Gassin mit Hilfe vieler Beispiele äußerst anschaulich dargestellt. Weitere Beiträge stammen aus den USA, Canada, Spanien, Italien, Belgien, Griechenland, Österreich und der Schweiz, und schließlich sind auch Tunesien und sogar Kuwait vertreten – eine internationale Zusammenarbeit, die hoffen lässt, dass der engstirnige und hasserfüllte Nationalismus, der zum großen Desaster des Krieges geführt hat, endgültig überwunden ist.
Diese Fülle an Perspektiven wurde nicht von einer umfangreichen Projektgruppe zusammengetragen und herausgegeben, sondern von lediglich zwei Personen. Die Romanistin und Germanistin Gislinde Seybert unterhält internationale Kontakte bis nach Sibirien und ins Kosovo und ist Eingeweihten durch eine Fülle ähnlicher, wenn auch kleinerer Veröffentlichungen bekannt. Ihr Fachkollege Thomas Stauder hat sich intensiv unter anderem mit der spanischen und italienischen Literatur beschäftigt. Er behielt jedes Detail bis hin zu den sehr gelungenen Umschlagfotos im Blick, ohne dabei das Gesamtkonzept aus den Augen zu verlieren. Sein Vorwort bietet zugleich einen guten Überblick über das Werk und kann Interessenten daher als „Einstieg“ dienen – oder auch als eine vollständigere Besprechung, in der auf knapp 20 Druckseiten all diejenigen Themen, Autorinnen und Autoren erwähnt werden, von denen in diesem Rahmen nicht die Rede sein konnte.
Das Buch ist sicherlich nur Leserinnen und Lesern zu empfehlen, die die drei verwendeten Sprachen hinreichend gut beherrschen und auch gelegentliche Zitate in Sprachen wie Spanisch oder Italienisch nicht scheuen. Diesem Personenkreis bietet er dafür aber einen Überblick über das Thema, der an Vollständigkeit und Vielfalt der Perspektiven nicht leicht zu überbieten sein wird.

Gislinde Seybert / Thomas Stauder (Herausgeber): Heroisches Elend. Der Erste Weltkrieg im intellektuellen, literarischen und bildnerischen Gedächtnis der europäischen Kulturen, Peter Lang Edition, Frankfurt/M. 2014, 1.625 Seiten, 124,95 Euro.