17. Jahrgang | Sonderausgabe | 11. August 2014

Editorial

Lange Zeit schien es, als ob das große Morden der Jahre von 1914 bis 1918 nur noch in den Geschichtsbüchern eine Rolle spielen würde. Zu sehr überlagerte der diesen noch übersteigende Irrsinn des Zweiten Weltkrieges den Ersten. Auch wenn kritische Geister immer wieder darauf hinwiesen, dass da doch ein sehr unmittelbarer Zusammenhang bestehe, der weit über die Revanchegelüste der in den Pariser Vorort-Friedensverträgen gerupften Verlierer-Mächte hinausgehe. Dass die Konfliktmasse, die zu diesem Kriege führte, immer noch virulent ist, erwies sich spätestens nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems. Die kriegerische Gewalt, die ultima ratio regum („das letzte Mittel der Könige“ – diese Inschrift findet sich oft auf barocken Geschützrohren), gehört seitdem zum gängigen Repertoire auch europäischer Politik. Und die Konfliktlinien ähneln verteufelt denen vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Auch der scheinbare Fatalismus, mit dem die Politiker jener Jahrzehnte inzwischen à la mode als „Schlafwandler“ entschuldet werden, scheint sich auf die aktuelle Politik zu projizieren: Schuld am Ukraine-Konflikt ist außer dem Zaren, also Wladimir Putin, eigentlich niemand… Im Jugoslawien-Konflikt waren (und sind es) „die Serben“. Wie 1914. Es gibt ein weiteres Faktum, das es gebietet, sehr aufmerksam auf das kriegerische zweite Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts zu schauen: Damals wie heute zeigte sich die europäische Friedensbewegung nicht in der Lage, den „Königen“ bei der Anwendung ihres „letzten Mittels“ in die Arme zu fallen. Und nüchtern betrachtet sah und sieht es mit der Linken in Europa nicht viel besser aus. Ob Theobald Tiger seinen Optimismus des Jahres 1922 („General! General! / Wag es nur nicht noch einmal! / Es schrein die Toten! / Denk an die Roten! / Sieh dich vor!“) auch im Jahre 2014 so skandieren würde, ist zu bezweifeln. Für DAS BLÄTTCHEN ist all dies Grund genug, nicht in den Tenor des Mainstream-Gedenkens einzustimmen. Aber es ist für uns allemal Grund genug, auf die Verantwortlichkeiten für dieses Völkergemetzel hinzuweisen, die Zeitgenossen (in Form bislang kaum bekannter und einiger bisher nicht gedruckter Quellen) zu Worte kommen zu lassen – und vor allem die Frage nach den Wirkungen und Nachwirkungen dieses Krieges zu stellen. Jeder Tag dieses großen Menschenschlachtens glüht gleichsam als Menetekel immer noch von der Wand. Es gibt allerdings einen wesentlichen Unterschied: König Belsazar konnte seinen Untergang nicht abwenden. Wir haben immer noch die Möglichkeit. Dieses Heft soll einen kleinen Beitrag dazu leisten. Wir danken allen Autoren und all denen, die uns großzügigerweise die Verwendungsrechte an den Texten Dritter zur Verfügung stellten.

Wolfgang Brauer