von Renate Hoffmann
Es steht im Garten. Inmitten von Koniferen und alten, weißblühenden Fliederbüschen. Die Frist zu weiterem ehrenden Angedenken am Begräbnisort war endgültig abgelaufen und nach nunmehr bald neunzig Jahren nicht mehr gegeben. Doch die Erinnerung an die Geschehnisse vergangener Tage sollte bleiben – trauernd, mahnend. Deshalb steht es im Garten. Ein hohes, schlichtes, granitenes Kreuz über dessen Querbalken ein faltenwerfendes Tuch fällt. Zeichen unendlichen Schmerzes.
Den äußeren Anlass dazu gaben: Das Attentat von Sarajevo vom 28. Juni 1914; die Kriegserklärungen Österreich-Ungarns an Serbien am 28. Juli und die des Deutschen Reiches an Russland am 1. August und an Frankreich am 3. August 1914. Hinter den Kriegsparteien standen die jeweils über den Globus verteilten Verbündeten. Geschätzte 70 Millionen Bewaffnete waren an den verschiedenen Fronten im Einsatz. Die Welt schlug rückhaltlos aufeinander ein und rechtfertigte den geprägten Begriff eines ersten Weltkrieges. – An der „Westfront“ tobten Schlachten, die zu den verwerflichsten Kapiteln der Geschichte gehören.
Da sind, neben anderen, die Kämpfe in Lothringen; bei St. Quentin, an der Marne und an der Aisne (1914). Die Schlacht in der Champagne im Winter 1915 und bei Arras. 1916 der Kampf um Verdun und an der Somme. Die Gefechte an der Aisne, in der Champagne und von Arras (1917). Die Marne-Schlacht, der Kampf bei Amiens und erneut an der Aisne (1918).
Dieser Fluss teilt das Departement gleichen Namens in ostwestlicher Richtung. Die Landschaft liegt in der Region Picardie, grenzt im Osten an Belgien und dehnt sich schmal und langgezogen bis über die Marne hinaus. Laon ist ihre Hauptstadt. – Ein sanftes Hügelland mit Waldgebieten und abgelegenen Dörfern, kleinen Gemeinden und alten Städten. Im Norden des Departements findet man das anmutige Gebiet der Thiérache – gepflegte Gärten und Parks, betagte Wehrkirchen, ausgedehnte Wanderwege. Die Anmut durchzieht auch Soldatenfriedhöfe…
Die Picardie, eine leidgeprüfte Region im ersten großen Weltkrieg. Während der fünf Jahre, die die Kämpfe anhielten, wurde sie mehrfach heimgesucht. Allein das Departement Aisne litt dreimal unter schweren Gefechten. „Im französischen Gedächtnis haftet vor allem die katastrophal gescheiterte Aisne-Offensive von 1917. […] Am Chemin des Dames, einem Höhenzug nördlich der Aisne, befinden sich mehrere Gedenkstätten.“ So informieren heute französische Tourismus-Werber über diese Landschaft.
Aus Heeresberichten und Chroniken des Frühjahres 1917 lässt sich Folgendes rekonstruieren: Deutsche Truppen ziehen sich im März auf die sogenannte „Siegfriedlinie“ zurück und verschaffen sich auf diese Weise eine günstige Verteidigungsposition. Die französische Armee bereitet eine Großoffensive im Bereich der Aisne und gleichzeitig in der Champagne vor. Im Fokus des Angriffs steht der Höhenzug „Chemin des Dames“. Oberbefehlshaber ist General Robert Nivelle („Nivelle-Offensive“). Die oberste deutsche Heeresleitung unter General Erich Ludendorff sieht die Gefährlichkeit der Situation an der Aisne. – Truppenstärke und Material auf französischer Seite: 61 Infanterie-Divisionen, 7 Kavallerie-Divisionen; 3.500 Geschütze. Truppenstärke und Material auf deutscher Seite: 41 Infanterie-Divisionen; 2.430 Geschütze, 640 Flugzeuge.
Der Angriff an der Aisne wird auf einer Frontlinie geführt werden, die im Südosten bei Reims beginnt und nordwestlich etwa in der Nähe von St. Gobain endet. Nicht weit von Reims entfernt, in nördlicher Richtung, liegt die Ortschaft Bertricourt. Am 6. April 1917 beginnt die geplante französische Offensive mit einem schweren Dauerbeschuss, der über zehn Tage anhält. Die deutsche Heeresleitung erwartet täglich den Angriff. Der erfolgt am 16. April.
Heeresbericht der Infanterieschlacht von Soissons bis Reims. Großes Hauptquartier, 16. April, westlicher Kriegsschauplatz: „Nach Scheitern feindlicher Erkundungsvorstöße am 15. April ist heute Morgen in breiten Abschnitten die Infanterie-Schlacht entbrannt […]“ 16. April, abends: „An der Aisne hat der große französische Durchbruchstoß […] nach 10tägigem Massenfeuer begonnen. Auf der 40 Kilometer breiten Angriffsfront ist der erbitterte Kampf um unsere vorderste Stellung im Gange.“ Gezeichnet „Der erste Generalquartiermeister Ludendorff.“ Schwere Verluste, insbesondere auf französischer Seite sind zu beklagen.
Der zweite Hauptangriff auf deutsche Stellungen in der Champagne am 17. April fordert ebenfalls hohe Verlust im französischen Heer. Im Generalstab übt man heftige Kritik am Vorgehen Nivelles. Unter den Soldaten brechen Aufstände aus. Nivelles Absetzung ist die Folge. Im Mai 1917 wird die Offensive eingestellt. – Verluste: „In der Doppelschlacht an der Aisne und in der Champagne waren insgesamt 187.000 französische und 163.000 deutsche Soldaten gefallen.“
Das Grabkreuz aus Granit steht im Garten auf einem massiven Sockel. Er trägt in Bronzebuchstaben die Inschrift: „Hier ruht unser lieber Sohn und einziges Kind Arthur Wittich. Einjähr. Gefr. 1. Feldk. Pionier Batl. 21, geb. 3. Jan. 1894 – gef. 6. Apr. 1917 bei Bertricourt in Frankreich, i. d. Heimat überführt 1. Nov. 1925.“
Der Schmerz war ohne Ende.
Schlagwörter: Aisne, Champagne, Gedenken, Picardie, Renate Hoffmann