von Burga Kalinowski
1974 schreibt Rainer Kirsch „Notiz zu Chile“. Das Gedicht ist eine schwer zu ertragende Beschreibung des Terrors nach dem Putsch 1973. Es endet mit diesen Zeilen:
„Es gibt eine Trauer
Die einem das Herz ausbrennt langsam bis an kein Ende
Und man muß leben und leben.“
Was Worte können! – wenn man die richtigen findet und ihnen den poetischen Atem gibt, um von Mord und Entsetzen so beherrscht und präzise zu berichten, dass der Dichter zum unerbittlichen Ankläger wird. Das können Worte. Oder: das kann Rainer Kirsch mit Wörtern. Er macht sie glänzend, konsistent, federleicht und vielfarbig. Er lässt sie schimmern, schreien, schlagen, kosen. „Das Wort und seine Strahlung“ ist der Titel eines Essays von ihm über Poesie. Sagen wir mal so: Zauberei, einerseits. Andererseits ist es Arbeit und Arbeit und wieder Arbeit. Jeder kennt den Spruch von den zwei Prozent Genie und 98 Prozent Fleiß. Im Gespräch sagt er darüber: „Manchmal macht das Dichten Freude und manchmal macht es keine. Das ist auch ganz verschieden. Und dann gibt es auch Überraschungen, man setzt sich unwillig an die Arbeit und auf einmal kommt eine Formulierung, die 14 Tage nicht kommen wollte.“ So wird aus alltäglichem Kram, aus den Läufen der Zeit, aus Menschen-Leben, Mord und Macht-Gier – Dichtung. Poetische Mitteilungen aus fernen Tagen und naher Welt, über Liebe und ihrer Küsse Verglühn, von Hoffnung, ihren vielfachen Begräbnissen und vom Tanz auf alten und neuen Gräbern, über die Ungeduld der Erwartung und die Weisheit der Geduld. Was wir – vielleicht – vergessen haben uns zu fragen oder zu sagen – in den Gedichten von Rainer Kirsch treffen wir es wieder. Oft jedenfalls. Das war schon immer so. Die Reclam-Büchlein mit seinen Gedichten waren begehrte Ware in den Buchläden der DDR und man rannte schnellstens los, wenn ein neuer Kirsch angekündigt war. Seine Texte wurden viel diskutiert, oft zitiert, gelegentlich verboten. Nach Auseinandersetzungen um seine Komödie „Heinrich Schlaghands Höllenfahrt“ wurde er 1973 aus der Partei ausgeschlossen. Absurd.
Er publizierte Gedichte, Erzählungen, Reportagen, Hörspiele, Stücke und Libretti, Porträts und Essays zu literarisch-ästhetischen Fragen. Ach ja, und wunderschöne Märchen, wie „Die Perlen der grünen Nixe“. Ich kenne keinen, der seinen Porträtband „Kopien nach Originalen“ (1974) nicht kennt. Oder „Gespräch mit dem Saurier“, Gedichte zusammen mit Sarah Kirsch (1965).
2004 brachte der Eulenspiegelverlag die ersten vier Bände einer Werkausgabe heraus. An den Bänden fünf bis acht unter anderem mit seinen Übersetzungen und Nachdichtungen arbeitet Kirsch zur Zeit, eine Briefauswahl ist geplant. Eine schöne Werkausgabe. Leder in Schattenmorellenrot, eine Farbe die Kirsch ge- oder erfunden hat. Wie Kirschblattgrün oder Frühkirschenrot – abgeguckt von den Bäumen im Garten seiner Eltern.
Rainer Kirsch wurde am 17. Juli 1934 in Döbeln geboren. Er wird 80 Jahre alt. Interviewtermin bei ihm zu Hause. Er wohnt in Marzahn, dem viel beredeten Berliner Stadtteil. Der Wohnung wegen ist er hierher gezogen. Sie ist geräumig und sehr aufgeräumt. Platz für sein Klavier, die vielen Bücher, Schaukelstuhl und einen Schrank für Wein. Er blickt ins Grüne und hat Freude an der Wildblumenwiese gegenüber.
Achtzig Jahre. Ein langes Leben. Es wird ein langes Gespräch. Über seine Nachdichtungen aus dem Russischen. Er übersetzte Sergej Jessenin, Anna Achmatowa, Wladimir Majakowski. Über seine besondere Liebe zu Ossip Mandelstam und über die Arbeit und die Freude daran, dessen Werk nachzudichten.
Über Petrarca, von dem er 1982 einige Sonette übertrug für die Poesiealbumreihe des DDR-Verlages Neues Leben. Dantes Zeitgenosse ist seitdem sein Dichtergeselle und geistert durch kunstvolle Sonette.
Reden über „Das Prinzip Hoffnung“ in drei Bänden von Ernst Bloch, den er gern gelesen und Georg Lukacs, den er nicht gemocht hat, sowenig wie das Realismus-Dogma von Shdanow, dem sowjetischen Chefideologen. Kirschs Widerspruch machte einige Leute misstrauisch: 1957 flog er von der Universität Jena, an der er Philosophie studierte.
Wenig später wurde er Mitglied im Schriftstellerverband, absolvierte eine sogenannte Bewährung in der Produktion in einer LPG. Er hackte dort Rüben und hat nebenbei geschrieben. Diskussionen und Konflikte dieser Jahre beschreibt er 1962 in den Schlusszeilen des Gedichtes „Meinen Freunden, den alten Genossen“: „Und die Träume ganz beim Namen nennen;/ Und die ganze Last der Wahrheit kennen./“ Es gilt bis heute.
Seltsame Geschichten aus einer Zeit und einem Land, in dem man sang „Fort mit den Trümmern und was Neues hingebaut“ und in dem ein junger Dichter Rüben hacken musste als Strafe für Widerspruch und anschließend eine Schule für Schriftsteller besuchte. Erstmals veröffentlichte er 1961 Gedichte zusammen mit Werner Bräunig, Heinz Czechowski und seinem Freund Karl Mickel.
Von 1963 bis 1965 studierten Rainer Kirsch und Sarah Kirsch – von 1960 bis 1968 ein Paar – am Leipziger Literaturinstitut „Johannes R. Becher“. Zugewinn für die eigene Substanz. Nachdenken über die Verantwortung des Schriftstellers. Entdeckung neuer Betrachtungsweisen zum Beispiel durch Walter Benjamin und sein Werk.
Und Schreiben natürlich und Streiten darüber und weiter Schreiben. Es entstehen Freundschaften wie mit Peter Gosse, Volker Braun, Richard Leising und Karl Mickel, die bestehen bleiben, bis der Tod dazwischen geht. Sie widerstehen der Zeit, ihrem Wechsel, ihren Widrigkeiten und Niedrigkeiten. Vielleicht verbindet sie die Idee von der sogenannten sächsischen Dichterschule mit ihren von Peter Gosse formulierten Eigenschaften: Sanguinik, Weltbezug, Handwerkskunst und Bestehen auf Vernunft. Hilfreich solche Maßstäbe auch im Bruch der Zeiten, von denen Kirsch sagt, dass ein nicht mehr existenzfähiges System zusammengebrochen ist, habe ihn nicht erschrecken können. Erschreckend war „nach der Wende die Masse der krähenden Wendehälse, die auf einmal alles schon gewusst hatten und stolz waren, nun das Sagen zu haben, und die relative Häufigkeit von Häme.“ Sein Gedicht „Ich-Soll“ – so wie das Ablieferungssoll in der Landwirtschaft – beschreibt die erwarteten und prompt gelieferten Unterwerfungsrituale mit einer gewissen Heiterkeit im Sarkasmus. Das habe er sich lebenslang erarbeitet: Eine epikureische Grundierung.
Dazu passt zum Schluss eine „Protokollnotiz“ von Rainer Kirsch aus den Julitagen des Jahres 1996:
„Mein Tag? Wie eh. Das Alter, noch, es drückt nicht.
Der Tod, wie eh, trostbietend und sehr fern.
Und jeder neuer Vers ist wie ein Rücklicht
der alten Zukünfte. So leb ich gern.“
Vielleicht sollte eine Zeitung eine ganze Seite mit seinen Gedichten drucken. Macht nur keiner. Das ist ein großer Fehler.
Das Blättchen gratuliert Rainer Kirsch, Dichter und Schriftsteller, zum 80. Geburtstag.
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