von Frank Ufen
Nach herkömmlicher Auffassung sind Lebewesen desto lernfähiger und intelligenter, umso weniger sie von Instinkten gesteuert werden. In den Augen des kanadischen Kognitionswissenschaftlers, Linguisten und Evolutionspsychologen Steven Pinker hingegen ist das genaue Gegenteil der Fall: Der Mensch ist hoch intelligent, weil er über mehr Instinkte verfügt als sämtliche anderen Säugetiere. Das menschliche Gehirn könnte nämlich nicht in jeder Sekunde Millionen von Sinnesdaten verarbeiten, wenn es nicht von vornherein wüsste, wie es sie zu sortieren und zu bewerten hat. Ein Lernen, das von keinem Lernprogramm dirigiert wird, kann schon deswegen nicht funktionieren, weil sich aus einer endlichen Zahl von Informationen unendliche viele Schlüsse ziehen lassen. Außerdem ist es wenig wahrscheinlich, dass die Evolution die geistigen Werkzeuge, mit denen sie die Hominiden ausgerüstet hat, aus dem Homo sapiens vollständig entfernt und durch eine Art Allzweckcomputer ersetzt haben soll. Vielmehr muss auch der menschliche Geist aus einer Ansammlung von Modulen bestehen, die jeweils für spezielle kognitive Aufgaben zuständig sind. Und gerade weil diese Module dem Wahrnehmen, Denken und Handeln eine Ordnung auferlegen, kann mit ihrer Hilfe eine nahezu unbegrenzte Vielfalt von Wahrnehmungen, Gedanken und Handlungen erzeugt werden.
Pinker nimmt konsequenterweise an – eine Annahme, die nach wie vor heftig umstritten ist – dass jeder Mensch mit einem „Sprachinstinkt“ auf die Welt kommt. Dieses Modul soll es dem Säugling ermöglichen, sich mühelos und in kürzester Zeit die Aufbauprinzipien seiner Muttersprache anzueignen – was wiederum voraussetzt, dass es sich um universale, allen Sprachen gemeinsame Baupläne handelt. „Wir lernen Sprache nicht so wie das Lesen der Uhr“, erklärt Pinker. „Wir wissen, wie wir Sätze bilden müssen, so wie eine Spinne ihr Netz zu weben weiß.“
Mit diesem Buch hat sich Steven Pinker auf ein äußerst ehrgeiziges Unternehmen eingelassen. Er will durch minutiöse Analysen der Verwendung von Alltagssprache in unterschiedlichen alltäglichen Situationen zur verborgenen universalen „Sprache des Geistes“ vordringen. Das heißt, er will herausfinden, wie der menschliche Geist operiert und welche Grundannahmen über die Gesetzmäßigkeiten der physikalischen und gesellschaftlichen Welt und welche grundlegenden Klassifikationen (Raum, Zeit, Kausalität und so weiter) ihn leiten. Pinker unterstellt hierbei, dass die Sprache des Alltags die Sprache des Geistes, die die Realität einigermaßen genau abbildet, gebrochen zum Ausdruck bringt.
Was Pinker schließlich zutage gefördert hat, ist nicht wenig. Beispielsweise erfährt man, warum man (im Englischen und Deutschen) zwar statt „Ich sprühe Wasser auf die Rosen“ ohne weiteres sagen kann: „Ich besprühe die Rosen mit Wasser“. Doch die Formulierung „Tex nagelte Poster ans Schwarze Brett“ lässt sich nicht ersetzen durch „Tex benagelte das Schwarze Brett mit Postern“. Pinkers Erklärung hierfür: Im ersten Fall wird ein Zustand durch ein indirektes Einwirken auf etwas verändert – denn die wesentliche Arbeit leistet die Schwerkraft. Im zweiten Fall hingegen wird ein Zustand aktiv durch ein direktes kontrolliertes Einwirken auf etwas verändert.
Man kann von Pinker auch eine Menge lernen über die Funktionsweise von Höflichkeitsritualen, die Logiken, denen Metaphernbildungen, Flüche oder Namensprägungen gehorchen. Oder was es damit auf sich hat, dass etliche der deutschen Wörter, die mit der Lautfolge „schn“ beginnen, Phänomene bezeichnen, die irgendetwas mit dem Riechorgan zu tun haben (Schnabel, Schnauze, Schnorchel, schnarchen, schniefen, schnüffeln, schnöde und viele andere). Dieses Beispiel stammt allerdings, wie etliche andere auch, von der exzellenten Übersetzerin Martina Wiese.
Die Originalausgabe dieses Buchs ist schon 2007 erschienen. Es ist sicher kein Zufall, dass die deutsche Übersetzung derart lange auf sich warten gelassen hat. Pinkers Buch ist jedenfalls etwa 200 Seiten zu umfangreich geraten und wirkt streckenweise wie eine unbeholfen gegliederte und mit Belegen und Fallbeispielen überladene Dissertation. Andere Passagen sind allerdings ausgesprochen unterhaltsam ausgefallen. Doch Pinker hat zweifellos viel zu sagen. Wer sich intensiv für Semantik interessiert, sollte die Anstrengung nicht scheuen, diesen Wälzer durchzuarbeiten.
Steven Pinker: Der Stoff aus dem das Denken ist. Was die Sprache über unsere Natur verrät, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2014, 608 Seiten, 24,99 Euro.
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