von Lutz Hausstein
Dass sich Armut auch in Deutschland immer mehr breit macht, können auch konservative Kreise inzwischen nicht mehr länger leugnen. Dennoch wird dieser Fakt immer wieder relativiert und kleingeredet. So wird dann argumentiert, dass in Deutschland ja kein Mensch hungern müsse, nur weil er arm sei. Den Armen ginge es im Vergleich zu anderen Ländern noch sehr gut, denn „unsere“ Armen seien ja nur „relativ arm“. Gelegentlich wird auch ein Vergleich zu früheren Zeiten gezogen: Menschen vor 50 Jahren hätten vor Freude in die Hände geklatscht, wenn sie all das gehabt hätten, was Arme in Deutschland heutzutage trotz ihrer Armut haben. Doch was ist dran an dieser These, dass Arme in Deutschland nur „gefühlt arm“ seien, sie sich quasi nur keinen Luxus leisten könnten? Bedeutet Armut hierzulande, ein bescheidenes, aber immer noch gutes Leben führen zu können?
Armut hat viele Erscheinungsformen. Doch viele Menschen haben, wenn sie diesen Begriff hören, zuallererst die Form der absoluten Armut vor Augen. Instinktiv sieht man ein Kind vor einer Bambushütte auf staubigem Boden hocken, mit einer halbleeren Schale zu seinen Füßen. Dies ist in gewisser Hinsicht sogar richtig. Denn allgemein formuliert, kann „absolute Armut“ als eine unzureichende Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse (Essen, Trinken, Wohnen, Kleidung, Gesundheit) und damit als direkte Bedrohung der Existenz beschrieben werden. Während in den süd- und ostasiatischen sowie pazifischen Regionen und in Indien in den letzten Jahrzehnten absolute Armut erheblich zurückgedrängt wurde, ist in Schwarzafrika erschreckenderweise immer noch fast jeder zweite Einwohner davon betroffen. In Deutschland hingegen ist absolute Armut deutlich seltener anzutreffen. Sie betrifft im Regelfall Obdachlose sowie Straßenkinder. Da die Bundesregierung keine diesbezügliche Statistiken erstellt, ist man auf qualifizierte Schätzungen angewiesen. Diese listen 284.000 Obdachlose (2012) und geschätzte 5.000 – 7.000 Straßenkinder auf. Tendenz: nach Rückgängen bis 2008 wieder deutlich ansteigend. Es ist also keineswegs zutreffend, dass es in Deutschland keine absolute Armut geben würde. Sie nimmt sogar wieder zu.
„Relative Armut“ hingegen wird in öffentlichen Diskussionen hierzulande zumeist nur mit einem Schulterzucken quittiert. Sie wird allzu häufig nur als rein statistischer Begriff verstanden, da sie auf den Median (mittlerer Wert – nicht das arithmetische Mittel!) des Netto-Äquivalenzeinkommens Bezug nimmt. Das Äquivalenzeinkommen berücksichtigt Kostenersparnis-Effekte aufgrund eines Mehrpersonen-Haushalts sowie eines niedrigeren Alters (Kinder, Jugendliche) der Haushaltsmitglieder gegenüber einem Einperson-Haushalt und stellt so das gewichtete Einkommen einer einzelnen Person dar. Der Median besagt, dass 50 Prozent der Bevölkerung ein höheres Einkommen besitzen, während die anderen 50 Prozent darunter liegen. Die Nutzung des Median und nicht des arithmetischen Mittels zeigt schon an, worauf die Feststellung von relativer Armut abzielt. Es geht bei diesem Konzept darum, welches Verhalten von einem Großteil der Gesellschaft praktisch gelebt werden kann und wem diese Möglichkeit aufgrund fehlender finanzieller Mittel verwehrt bleibt.
Die verschiedenen Armutsgrenzen lassen erkennen, wie weit der jeweils Betreffende in seinen finanziellen Möglichkeiten von dieser gesellschaftlichen Normalität entfernt ist. Europaweit ist seit 2001 vereinheitlicht, dass Personen, die 60 Prozent vom Median des Netto-Äquivalenzeinkommens zur Verfügung haben, als „armutsgefährdet“, mit 50 Prozent als „relativ einkommensarm“ und mit 40 Prozent als „arm“ gelten. Im Jahr 2012 wurde nach dieser Festlegung eine Person mit einem Netto-Äquivalenzeinkommen von 869 Euro pro Monat in Deutschland als armutsgefährdet eingestuft. Laut Armuts- und Reichtumsbericht ist die Quote der Armutsgefährdeten auf 15,2 Prozent der Bevölkerung gestiegen. Dies ist mehr als jeder Siebente – eine mehr als bedrückende Zahl.
Doch immer noch steht die Frage im Raum, welche praktische Relevanz relative Armut wirklich besitzt. Reicht es nicht aus, wenn verhindert werden würde, dass keine absolute Armut auftritt? Kann man schon ein vernünftiges und gutes Leben führen, wenn die grundlegenden Lebensbedürfnisse abgedeckt sind? So (überlebens-)notwendig es zuerst natürlich ist, dass der Mensch seine Grundbedürfnisse decken kann, so ist der Mensch aber vor allem auch ein soziales Wesen. Er lebt nicht autark, sondern in seinem sozialen Umfeld, ist von diesem abhängig. Er ist auf Interaktionen mit diesem Umfeld angewiesen, um sich überhaupt als vollwertiger Mensch fühlen zu können. Hat er diese Möglichkeit nicht, vegetiert er ausschließlich vor sich hin. Er überlebt zwar, lebt aber nicht.
Jedes Land, jede Region, jede Kultur hat bestimmte, eigene Traditionen und Riten, die sich in häufig praktizierten Verhaltensweisen eines breiten Bevölkerungsteils widerspiegeln. Das sind eine Vielzahl kleinerer Selbstverständlichkeiten des täglichen Lebens und Miteinanders. Gelegentliche Ausflüge am Wochenende, das allmonatliche Freitags-Kegeln, der Besuch von Karnevalsveranstaltungen, die aktive Mitgliedschaft im Sportverein, der spontane Eiscafé-Besuch, die regelmäßigen Treffen im Biergarten oder einfach nur die Einladung an Freunde zu einem Besuch zuhause samt dazugehöriger Bewirtung. Das alles ist weit entfernt von Luxus. Es sind die kleinen täglichen Dinge, Begegnungen und Erlebnisse, die unser aller Leben erst so bereichern und lebenswert machen. Dennoch können sich relativ Arme diese – mit sehr überschaubarem Mitteleinsatz verbundene – Vergnügen nicht leisten. Sie verlieren so den Kontakt zu ihren Freunden und Bekannten, können auf keine gemeinsamen Erlebnisse mehr zurückgreifen und vereinsamen auf diese Weise zunehmend. Sie leiden damit zwar keine absolute Armut, sie verhungern nicht, ihre Entkopplung vom Großteil der Gesellschaft schreitet aber unter diesen Umständen schnell voran.
Der erzwungene Ausschluss aus der gesellschaftlichen Normalität ist für die Betroffenen ebenso schlimm wie die schweren Entbehrungen absoluter Armut, nur auf eine andere Art. Sie lernen, dass sie der Gesellschaft nichts wert sind, dass sie nicht dazu gehören. Denn das, was ein Großteil der Gesellschaft völlig selbstverständlich regelmäßig tut, bleibt ihnen verwehrt. Es ist also nicht mangelnder Luxus, sondern die fehlende Teilhabe an gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten, die relativ Armen ihre Lebensrealität so bedrückend macht.
Der Anstieg der Armutsgefährdungsquote (relative Armut) zeigt an, dass die Schere (PDF) in Deutschland zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht. Ein immer größer werdender Teil der Bevölkerung ist von der gesellschaftlichen Normalität abgekoppelt, während die Anzahl der Reichen und Superreichen gestiegen ist – und gleichzeitig dazu auch deren Vermögen. Die „Mitte der Gesellschaft“ schmilzt so zunehmend.
Relative Armut ist also keineswegs „gefühlte Armut“ oder „Jammern auf hohem Niveau“. Sie besteht nicht darin, dass relativ Arme nur einen Polo fahren und auf den Mercedes des Nachbarn „neidisch“ sind, wie relative Armut sehr häufig falsch interpretiert wird. Relative Armut ist keine Petitesse. Sie ist vielmehr ein Indikator für die Spaltung einer Gesellschaft, praktisch vor allem aber die ganz konkrete Exklusion eines jeden einzelnen Betroffenen aus selbiger. Ein Ausschluss, der die Identität der Armen als Mitglied der Gemeinschaft infrage stellt. Sie gilt es genauso zu vermeiden wie absolute Armut mit all ihren schlimmen Auswirkungen.
Mit freundlicher Genehmigung den NachDenkSeiten. Die kritische Website vom 25.6.2014 entnommen. www.nachdenkseiten.de
Lutz Hausstein (45), Wirtschaftswissenschaftler, ist als Arbeits- und Sozialforscher tätig. In seinen 2010 und 2011 erschienenen Untersuchungen „Was der Mensch braucht“ ermittelte er einen alternativen Regelsatzbetrag für die soziale Mindestsicherung. Er ist u.a. Ko-Autor des Buches „Wir sind empört“ der Georg-Elser-Initiative Bremen sowie Verfasser des Buches „Ein Plädoyer für Gerechtigkeit“.
Schlagwörter: Armut, Deutschland, Einkommensschere, Lutz Hausstein