von Thomas Ruttig
Wie erwartet wurde Afghanistans Präsidentenwahl – die erste für die Zeit „nach Karsai“ – nicht in der ersten Runde entschieden. Keiner der zum Schluss noch acht Kandidaten konnte am 5. April mehr als die Hälfte der Stimmen gewinnen. Das gab – nach längerem Zählen als in anderen Ländern üblich und nach vierwöchiger, zum Teil kontroverser Bearbeitung tausender Beschwerden wegen angeblicher Wahlmanipulationen (was selbst Möglichkeiten zur Manipulation eröffnete) – am 15. Mai die Wahlkommission in Kabul bekannt. Wie im französischen System treten deshalb am 14. Juni die beiden Bestplatzierten gegeneinander an: Ex-Außenminister Abdullah Abdullah, der auf 45 Prozent der Stimmen kam, und der frühere Finanzminister und Weltbank-Mitarbeiter Aschraf Ghani Ahmadzai mit 31,6 Prozent.
Abdullah hat es nicht geschafft, mit Hilfe einer Flut von Wahlbeschwerden seinen Stimmanteil auf über 50 Prozent zu bringen. Trotzdem ist Ghanis Abstand zu ihm viel größer als erwartet. Zalmai Rassul, ein weiterer früherer Außenminister, den viele Beobachter für den Favoriten des nach zwei Amtsperioden scheidenden Hamed Karzai hielten, kam nach müdem Wahlkampf nur auf 11,4 Prozent der Stimmen, und hat sich inzwischen Abdullah angeschlossen.
Ghani gehört zur Bevölkerungsmehrheit der Paschtunen, Abdullah wird dem Lager der nationalen Minderheiten und früheren antisowjetischen Nordallianz-Mudschahedin zugeordnet, obwohl auch er väterlicherseits Paschtune ist. Doch neu an dieser Wahl war, dass gerade die Millionen junger, städtischer und besser gebildeter Wähler nicht mehr nur nach ethnischen Kriterien entschieden. Der als prowestlich geltende Wirtschaftsliberale Ghani zum Beispiel hatte sich den für Kriegsverbrechen verantwortlichen, allerdings nicht rechtskräftig verurteilten Usbeken-Warlord Abdul Raschid Dostum als möglichen Vize ins Boot geholt. Noch bei der vorigen Wahl 2009 hatte er fast alle usbekischen Stimmen, etwa eine Million, geholt, damals noch als Karzai-Verbündeter. Das hat diesmal nicht funktioniert. Viele Usbeken stimmten für Abdullah, während progressive Afghanen, die eigentlich Ghani als Wirtschaftsfachmann präferierten, wegen Dostums Vergangenheit dann doch nicht für ihn votierten.
Bis zum zweiten Wahlgang werden neue Allianzen geschmiedet. Abdullah hat bereits die Dritt- und Fünftplatzierten, Rassul und Gul Agha Sherzai, einen Karsai-Rivalen aus Kandahar, auf seine Seite gebracht. Rein rechnerisch würde das bereits reichen. Aber nicht alle Wähler folgen automatisch ihrem Spitzenkandidaten. Rassuls tadschikischer Vize ist mit Abdullah verfeindet und glänzte auf dessen Pro-Abdullah-Pressekonferenz demonstrativ mit Abwesenheit. Einige Stammesführer, die in der ersten Runde Sherzai unterstützt hatten, erklärten öffentlich, sie würden nun mit Ghani gehen. Überraschungen im zweiten Wahlgang sind also nicht auszuschließen.
Andere Kandidaten verhandeln mit beiden Kandidaten und bieten ihre Stimmen im Tausch gegen künftige Regierungsämter. Der mit 7,0 Prozent Vierte im Rennen, Erzislamist Abdul Rabb Rassul Sayyaf, versucht so, sich eine Schlüsselposition im Justizsektor zu sichern – keine guten Aussichten, besonders was Frauen- und Menschenrechte betrifft.
Auch wenn offiziell Angaben über die Wahlbeteiligung – über 60 Prozent mit fast 7,2 Millionen abgegebenen Stimmen – mit großer Vorsicht genossen werden müssen, drei Dinge sind in der ersten Runde deutlich geworden. Erstens gaben gerade junge und städtische Afghanen ein Votum der Unzufriedenheit mit Noch-Amtsinhaber Karzai ab, der nun endlich nicht mehr von vornherein als Sieger feststehen konnte; nach zwei Amtszeiten durfte er nicht mehr kandidieren. Zweitens, stimmten sie auch gegen die Taleban, die mit einer fast präzedenzlosen Gewaltwelle vor der Wahl dafür sorgten, dass sich kaum ausländische Wahlbeobachter ins Land wagten (auch Karzai war darüber froh) und selbst viele Journalisten nicht anreisten. Drittens war es ein Votum für die Anwendung demokratischer Spielregeln. Afghanen können und wollen Demokratie.
Demokratisch waren diese Wahlen deshalb noch lange nicht. Sie funktionierten nicht wie die Europawahl am 25. Mai, bei der jede Frau und jeder Mann persönlich eine Stimme einwerfen konnten, hinterher wird gezählt und wer die meisten Stimmen hat, gewinnt. In Afghanistan stimmen oft Männer für „ihre“ Frauen, Dorf- und Stammesführer für „ihre“ ganzen Dörfer ab. Deshalb ist vor allem der Frauenanteil von 36 Prozent an der angeblichen Wahlbeteiligung von fast 7,2 Millionen zu schön um wahr zu sein. Schon bei der Fälschungswahl 2009 – als Karsai gewann – wurde am meisten in Frauenwahllokalen manipuliert. Diesmal gab es wieder Geisterwahllokale – die entweder geschlossen oder unauffindbar waren und trotzdem Stimmen ablieferten. Bis zuletzt gab es keine vollständige Liste der am Wahltag geöffneten Stimmlokale. Dafür richtete die Wahlkommission wegen großen Andrangs zusätzliche Wahllokale ein, aber auch darüber gibt es keinen vollständigen Überblick.
Zudem betrachten Kandidaten wie Wähler die Wahlinstitutionen nicht als unparteiisch, und doch handelten diese nach dem Vertrau-mir-Prinzip und entschieden oft in kurzem Prozess über die Tausenden von Wahlbeschwerden. Wenigstens sieht es so aus, dass anders als 2009 die manipulierten Stimmen besser verteilt sind.
Trotz aller Euphorie müsste den Afghanen also klar sein, das ihr Wahlsystem und seine Institutionen noch sehr zu wünschen übrig lassen. Es gibt kein einheitliches Wählerverzeichnis, Millionen von Blanko-Wahlausweisen kursieren, die schon bei der Fälschungswahl 2009 das Hauptinstrument für die Manipulationen waren. Und dass vor allem im paschtunischen Süden Frauen kaum aus dem Haus dürfen, also auch nicht um zu wählen. Hören will das aber niemand, und auch die afghanischen Medien, die sich zum Teil in einem bedenklichen Rausch von patriotischem Zweckoptimismus befinden, nehmen das gar nicht erst zur Kenntnis.
Unvorhersagbar bleibt, wer am 14. Juni siegen wird, weil die Wähler beginnen, nicht mehr überkommenen Mustern zu folgen und ethnische Loyalitäten sich aufweichen. Und weil nicht klar ist, wie viele der Stimmen erneut nicht legitim sein werden, also das Resultat von gestopften Wahlurnen oder „Stellvertreterwahl“ für Frauen. Wie auch immer der Ausgang – hinterher muss der Gewinner dem Ruf der Wähler nach Veränderung, weniger Korruption und besseren Lebensverhältnissen Rechnung tragen, wenn die demokratische Euphorie nicht schnell wieder in Enttäuschung über die Eliten, zu denen auch der „neue“ Präsident gehört, umschlagen soll. Unter anderem dadurch, dass die Posten in der neuen Regierung nicht wieder unter den alten Warlord-Netzwerken aufgeteilt werden, sondern an Leute gehen, die begreifen, dass auch Afghanistan im 21. Jahrhunderts lebt.
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