17. Jahrgang | Nummer 10 | 12. Mai 2014

Schwimmen gegen den Strom – Erinnerung an Günter Gaus

von Hans-Dieter Schütt

Heiner Geißler nannte ihn den „unangenehmsten Journalisten, immer liebenswürdig, aber Fragen scharf wie die Schnitte eines Chirurgen“. Oskar Negt fand in den Gaus-Interviews nie „den skandalträchtigen Umkreis intimer Entblößungen, sondern den Citoyen, den öffentlichen Menschen in seinen Charakterprägungen“. Und Monika Maron bezeichnete die Empfänge der Ständigen Vertretung für Künstler der DDR unter Gaus als Feste großen Verständnisses für die „eher slawischen Feiergewohnheiten der Geladenen“; wenn das Protokoll dem „trunkenen Treiben“ ein Ende setzen wollte, habe der Chef kategorisch einen Whisky bestellt. Einmal hat er in Hamburg gemeinsam mit Rudolf Augstein das Grab Bismarcks besucht. Augstein stand am Kanzlergrab, Gaus indes ging zum Sohnesgrab, der war Leiter des Auswärtigen Amtes und beim Rücktritt des Vaters loyal zurückgetreten. Alexander Kluge: „Das zeigt die Akzente, die Gaus setzte: Unauffälligkeit und Dauerhaftigkeit.“ Gaus selber sagte: „Mehr Sein als Scheinen.“
Deutschlands berühmtester Fernseh-Interviewer und Bonns erster Vertreter bei der DDR wurde als Sohn eines Gemüsehändlers in Braunschweig geboren (die Eltern des Dichters Wolfgang Borchert kauften gern dort ein). 1929 – ein Jahrgang am äußersten Rand völkischer Vernichtung; zu jung für Feldzüge, doch alt genug, den Krieg einschneidend zu erfahren. Das ist sie, die „Gnade der späten Geburt“, Gaus’ geflügeltes Wort, das Helmut Kohls Redenschreiber später stehlen werden. Der plötzliche Frieden 1945, das ist für Gaus lebenslang „Erinnerungssüße an einen berückend schönen Sommer“ geblieben. Dem der westdeutsche Aufbruch folgte. Raum für Talent, Ehrgeiz! Und so ist Gaus, „während Rudi Dutschke demonstrierte, beschäftigt mit einer Karriere als Journalist“. Gaus war ein feiner Mensch, in mehrfacher Hinsicht, und er hat das Feine seiner Denkungs- und Formulierungsart stets gegen das Gröbste genutzt: gegen die Darwinisierung des demokratischen Gemeinwesens. Er hielt die Sicherheit der weniger Begüterten vor sozialen Übergriffen für den „inneren Kern“ der bürgerlichen Gesellschaft. Und sah diesen Kern am Ende seines Lebens gesprengt. Einzig traurige wie couragierte Gelassenheit bot sich dem Skeptiker als letzte Stütze an: Es sei schon genug, wenn man die Kraft behalte, gegen den Strom zu schwimmen, ohne hinzuschauen, ob einer mitschwimme. Seine Kommentare im „Freitag“ (dessen Mitherausgeber er war) und in der „Süddeutschen Zeitung“: geschliffene, analysesichere Begleitschreiben eines Niedergangs demokratischer Kultur.
Einst hatte er geglaubt, es könne tatsächlich eine Arbeitsteilung geben zwischen „den aufatmend Entpolitisierten und den politisch Zuständigen“. Repräsentative Demokratie als verlässlich tugendhafte Arbeit der politischen Klasse – Arbeit, die es erlaubt, dass alle anderen, angstfrei und ohne Zwang zum patriotischen Lippenbekenntnis, in ihren „Nischen“ leben können. Durchs Leben dieses Publizisten zieht sich somit von Anfang an der Wunsch, befreit zu sein von landläufigen Kategorien der Geschichtsträchtigkeit, bei der „sich die Menschen von Zeit zu Zeit nach kategorischem Imperativ zum Humus der Geschichte machen lassen“. Er sah nicht im geschichtlichen Enthusiasmus die Menschenchance, sondern in der Mäßigung, ausgelöst durch Erschöpfung (jener heilsamen Empfindung vieler Fünfundvierziger). Er mochte nicht in jenem aufreibenden Heroismus der Ideen mitfiebern, der immer wieder in Katastrophen führt; er mühte sich um einen Geist, der die Pausen zwischen den besagten Katastrophen verlängert. Dädalos als Vorbild: das Fliegen auf bekömmlicher Höhe. Im Gegensatz zu dessen Sohn Ikaros, der verwegen sonnennah immer abstürzen wird. Gaus Lieblingsmetapher neben der vom „alten Adam und der alten Eva“, die immer nur wieder einen alten Adam und eine alte Eva zeugen, nie den neuen Menschen.
Diesen hohen ethischen Wert des pragmatischen Handelns, Ertrag eines konsequenten Existierens außerhalb geschlossener Weltbilder – Gaus erhob just dies zur Grundlage seines politischen Lebens. Eines Tages ist der Reporter der „Süddeutschen Zeitung“, der „Spiegel“-Chefredakteur, der früh legendäre „Zur Person“-Interviewer (seit 1963) auf Anfrage Willy Brandts „von der Seite des Grabens, wo die Merker stehen, also die Journalisten, auf jene Seite gewechselt, wo sich die Täter befinden, die Politiker“ (Gaus). Er wird von 1974 bis 1981 erster Ständiger Vertreter der BRD bei der DDR. Antrittsbesuch bei Honecker: Um das Deutschlandlied vorm Staatsratsgebäude zu verhindern, wird der Platz in eine Baustelle verwandelt, die Zeremonie muss in den Innenhof ausweichen. Neben den Interviews, die ihn zum einprägsamsten Hinterkopf Deutschlands machten, nannte Gaus diese diplomatische Arbeit stets als sein Wesentliches. Brandtscher Ostarbeiter an Schnittstellen von Realpolitik und neuem Bewusstsein. Er nahm staatliche Realität wie sie war, und im Zeitgefühl fürs Mögliche hat er doch Impulse einzubinden gewusst, die das jeweils bestehende Eisendenken Ost wie West aufweichen sollten. Außenpolitische Entspannung als Prämisse, um im Inneren Zweideutschlands, schrittweise, Normen aufzubrechen. „Die SED-Funktionäre konnten mir gefallen oder nicht, aber die Vorstellung, eigentlich müsste unser Diplomat lediglich mit der Opposition umgehen – dies verrät einen Realitätsverlust, der mich ängstigt.“
Christa Wolf – für Gaus ein so großer Freundesmensch, wie ihm Hannah Arendt einst ein großer Verehrungsmensch war – schrieb ironisch, die DDR habe diesen Westdeutschen „verdorben“, ein anderes Wort für: „fulminante vorurteilsfreie Neugier“. So unermüdlich wie vergeblich hat er der „Welt der Westdeutschen“ (Titel eines seiner erregendsten Bücher) das östliche „Staatsvolk der kleinen Leute“ zu erklären versucht. Hat den „totalitären Antikommunismus“ verurteilt. Kritisierte die „Sturzgeburt“ der Einheit. Und bei Bürgerrechtlern bedauerte er deren Aufenthalt in zu viel Vergangenheit, „so räumten sie ein weiteres Mal den Platz für Etablierte“. Kein Mensch des Werdens – er blieb sich treu. Einer, der im guten, störrischen Sinne stehen blieb. Erstaunt hat er beobachten müssen, wie sich das Land jedoch bewegte. Nach rechts. So dass er eines Tages links stand, vielleicht mehr, als er je im Sinn hatte.
Er ist immer der tapfere, lautere Gespaltene geblieben. Den kleinen Bürger nahm er in Schutz, ohne dem Kleinbürgerlichen nah sein zu wollen; die Bedürfnisse der Mehrheit verteidigte er gegen den Hochmut Intellektueller, ohne aber politische Furcht vor Mehrheiten verbergen zu können. Anpassung hielt er fürs Menschenrecht der Schwachen, nahm sich selber freilich von diesem Recht aus – und fragte doch gleichzeitig, ob er, der viel Glück gehabt habe im Leben, je wirkliche Stärke durchgehalten hätte, wie etwa die Kommunisten unter Hitler. Die Grunderkenntnis dieses Lebens: Der Mensch wird aus Schaden nicht klug. Diese Fünfundvierziger-Hoffnung: zerstoben. Denn immer noch wird überall mit Eisen Geschichte gemacht. Aus der SPD ist Gaus 2001 still ausgetreten, wegen deutscher Solidarität für Washingtons Afghanistan-Einsatz. Was ihm blieb (und was bleibt), sind seine klugen, gewissensforschlichen, in unzeitgemäße Ruhe getauchten Interviews. Porträts, die mit Ludwig Erhard im ZDF begannen (als Gaus selber noch keinen Fernseher besaß) und im RBB endeten. „Ein Interview mit Marlene Dietrich scheiterte an meiner Arroganz, ihr die Fragen nicht vorlegen zu wollen.“ Über 200 Sendungen. Unvergessliche deutsche Zeit- und Fernsehgeschichte.
„Der Mensch ist die einzige Münze, mit der auf dieser Welt gehandelt wird.“ Das kann als sehr bitterer Satz am Ende aller Erfahrungen gelesen werden. Denn wie viel Währungsverfall, wie viele Kursstürze. Aber es ist ein Satz appellarisch gestimmter Hoffnung. Fast Schiller. Ein Gedanke aus dem Abituraufsatz des 19-jährigen Gaus. Dies blieb, trotz allem, sein Plädoyer für den Menschen; und Menschen brachten ihn davon nicht ab. Am 14. Mai vor zehn Jahren ist Günter Gaus, der im November dieses Jahres seinen 85. Geburtstag gefeiert hätte, gestorben.

Hans-Dieter Schütt ist Autor des biographischen Essays „Günter Gaus. Von den Hoffnungen eines Skeptikers“, soeben erschienen im Dietz Verlag Berlin, 175 Seiten, 16,90 Euro.