von Hubert Thielicke
Um die Jahresmitte 1946 ereignete sich auf dem Bikini-Atoll ein bizarres Spektakel. „Zur Operation Crossroads, dem ersten und einzigen medienwirksam inszenierten Kernwaffentest der Nachkriegszeit, reisten Offiziere, Geheimdienstler, Parlamentarier, Forscher und Gelehrte aus insgesamt zweiundzwanzig Staaten, darunter China, Russland, Polen, Mexiko und Brasilien, in die Südsee, um den Beginn einer neuen Ära mitzuerleben“, so Stephanie Cooke in ihrem Buch „Atom – Die Geschichte des nuklearen Zeitalters“. Die Menschheit stand in der Tat am „Scheideweg“ – den von den USA mit dem ersten Test in New Mexico und den beiden Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki begonnenen nuklearen Pfad fortsetzen oder den nuklearen Geist in die Flasche verbannen? Die USA entschieden sich für das Erstere. Die beiden Atomtests am ersten und 25. Juli 1945 zerstörten Dutzende Schiffe und demonstrierten damit den tausenden Beobachtern die verheerende Macht der neuen Waffe.
Doch das Monopol der USA währte nicht lange – nur vier Jahre später zündete die Sowjetunion ihre erste Atombombe. Das nukleare Wettrüsten nahm Fahrt auf, die nächste Runde begann. Und wieder standen die Marshallinseln im Mittelpunkt. Am 31.10.1952 löschte eine gewaltige Explosion die Insel Elugelab im Eniwetok-Atoll aus; erstmals wurde eine Wasserstoffbomben-Vorrichtung getestet. Sie hatte eine Sprengkraft von etwa 10 Megatonnen. Ein riesiger Atompilz erhob sich am 28.2.1954 über dem Bikini-Atoll: Beim Projekt „Castle Bravo“ handelte es sich um die erste einsatzfähige Wasserstoffbombe, mit 15 Megatonnen die stärkste jemals von den USA gezündete, 1000mal stärker als die Hiroshima-Bombe. Insgesamt fanden auf den Marshallinseln von 1946 bis 1958 circa 67 nukleare Tests statt, davon etwa 18 im Megatonnen-Bereich. Die Bevölkerung hat heute noch unter den Folgen der Radioaktivität zu leiden, die Regierungen fanden sich mit Millionenzahlungen ab.
Nun soll das ein globales politisches Nachspiel haben. Am 24. April leitete die Republik der Marshallinseln beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag ein Klageverfahren ein gegen die neun Atomwaffenstaaten USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, China, Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea. Ziel ist, diese Staaten vor dem juristischen Hauptorgan der Vereinten Nationen für eklatante Verletzungen des Völkerrechts zur Rechenschaft zu ziehen. Als rechtliche Grundlagen des Verfahrens werden angeführt:
1. Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (NPT): Artikel VI sieht die Verpflichtung der Teilnehmerstaaten vor, Verhandlungen zur Einstellung des nuklearen Wettrüstens und zur nuklearen Abrüstung zu führen. Das betrifft die kernwaffenbesitzenden Teilnehmerstaaten USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China. Nach Auffassung des Klägers handelt es ich hier aber auch um Völkergewohnheitsrecht, das die anderen drei Nuklearstaaten ebenfalls bindet.
2. Statut des IGH: Gemäß Artikel 36 haben sich Großbritannien, Indien und Pakistan wie auch die Marshallinseln der obligatorischen Gerichtsbarkeit des IGH unterworfen. Die anderen sechs Atomstaaten werden aufgerufen, für diesen konkreten Fall die Zuständigkeit des IGH zu akzeptieren.
Dabei kann sich der Klägerstaat durchaus auf einen Präzedenzfall berufen. Am 8. Juli 1996 gab der IGH auf Antrag der UN-Generalversammlung ein Rechtsgutachten zur Völkerrechtswidrigkeit der Androhung oder der Anwendung von Kernwaffen ab. Darin wird auch festgestellt: „There exists an obligation to pursue in good faith and bring to a conclusion negotiations leading to nuclear disarmament in all its aspects under strict and effective international control.“ Neben dem NPT hatte der Gerichtshof offensichtlich auch das Völkergewohnheitsrecht im Sinn.
Über die Erfolgsaussichten des Verfahrens mag man trefflich streiten. Selbst wenn es zu einer im Sinne des Klägers positiven Meinungsäußerung des IGH kommen sollte, dürfte unklar sein, wie sie umzusetzen ist. Zumindest zielen die Marshallinseln wohl nicht auf Schadensersatz oder Kompensationsleistungen ab. Ihr Außenminister Tony De Brum betonte bei der Vorstellung der Klage: „Unsere Leute haben unter dem katastrophalen und nicht wieder gutzumachenden Schaden dieser Waffen gelitten und wir schwören weiter zu kämpfen, damit kein anderer auf der Erde jemals diese Gräueltaten erlebt.“ Es geht also um einen politischen Ansatz, mit dem Ziel, Druck auf die Kernwaffenstaaten auszuüben, ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen endlich nachzukommen.
Das ist insofern bedeutsam, da im nächsten Jahr die turnusmäßige Konferenz zur Überprüfung der Wirkungsweise des Kernwaffensperrvertrages stattfindet. Die Vorgängerkonferenz 2010 konnte auf Erfolge wie den gerade zwischen Russland und den USA abgeschlossenen neuen START-Vertrag verweisen und verabschiedete einen Aktionsplan zur nuklearen Abrüstung. Für die nächste Konferenz bestehen jedoch angesichts der Bilanz seit 2010 trübe Aussichten: keine Fortschritte bei der nuklearen Rüstungskontrolle, keine Verhandlungen, schwere Vertrauenskrise zwischen dem Westen, insbesondere den USA, und Russland. Das Projekt der Marshallinseln dürfte damit nur ein Baustein der Kritik an den Kernwaffenstaaten sein.
Nicht übersehen sollte man aber andererseits, dass die Marshallinseln, obwohl leidgeprüfte Opfer von US-Atomwaffenversuchen, sich nicht in jeder Beziehung konsequent gegenüber dem Nuklearproblem verhalten. Wie die Föderierten Staaten von Mikronesien sowie Palau unterhalten sie besondere Beziehungen zu den USA, darunter auch auf militärischem Gebiet. So befindet sich auf dem Kwajalein-Atoll die Kwajalein Missile Range (auch „Reagan Test Site“ genannt), eine Raketen-Teststation mit Raketenabschussanlagen. Dafür erhält der Staat Zahlungen von den USA; seine prekäre wirtschaftliche Lage mag eine Erklärung bieten. Mehr noch, wie die beiden anderen genannten Inselstaaten sind die Marshallinseln bisher nicht dem 1985 abgeschlossenen Rarotonga-Vertrag über eine nuklearfreie Zone im Südpazifik beigetreten, obwohl sie als Mitglieder des Pazifischen Inselforums dazu berechtigt wären.
Die Republik der Marshallinseln besteht aus hunderten Atollen und Inseln im mittleren Pazifik. Ihre Landfläche umfasst jedoch nur 181 Quadratkilometer, wo etwa 55.000 Menschen leben. Die Inselgruppe war von 1886-1914 deutsche Kolonie, dann von Japan verwaltetes Völkerbundsmandat. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand sie als UN-Treuhandschaftsgebiet unter US-Verwaltung. Die Inseln wurden 1979 selbständig und schlossen ein Assoziierungsabkommen mit den USA, das 1986 in Kraft trat. Die vollständige formale Unabhängigkeit erreichten sie 1990, als das UN-Mandat der USA endete.
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