von Edgar Benkwitz
Ende März wurde in China ein neuer indischer Botschafter akkreditiert – diplomatischer Alltag, möchte man meinen. Doch vom chinesischen Staatsoberhaupt war aus diesem Anlass Bemerkenswertes zu hören. Er bezeichnete die Vertiefung der Beziehungen zwischen China und Indien als seine historische Mission und sich selbst als Anwalt einer indisch-chinesischen strategischen Partnerschaft. War das nur dem Anlass geschuldete diplomatische Höflichkeit oder taktisches Verhalten, um den Bemühungen anderer Großmächte um Indiens Gunst entgegenzutreten? Die indische Presse weiß zu berichten, dass Staats- und Parteichef Xi Jinping voraussichtlich noch in diesem Jahr Indien besuchen wird. Dabei soll er interessiert sein, mit Indien den 60.Jahrestag der Unterzeichnung der panch shila zu würdigen.
Erinnern wir uns. Im April 1954 besiegelten die beiden jungen Staaten Indien und China ihre neuen Beziehungen in einem Vertrag zu Handels- und Verkehrsfragen zwischen der chinesischen Provinz Tibet und Indien. Dessen Präambel enthält die „Fünf Prinzipien“, die panch shila, die hier erstmalig völkerrechtlich fixiert wurden. Als Prinzipien der friedlichen Koexistenz spielen sie bis heute eine bedeutende Rolle in den internationalen Beziehungen. Doch ausgerechnet zwischen ihren „Autoren“ und ersten Gestaltern hielten sie nur wenige Jahre. Ungeregelte Grenz- und Territorialfragen, noch aus der Kolonialzeit stammend, zerstörten das freundschaftliche Verhältnis zwischen beiden Staaten und führten 1962 zu einem Krieg. Dieses Ereignis sollte noch auf Jahrzehnte ihr Verhältnis belasten und auf das Kräfteverhältnis in diesem Teil der Welt beträchtliche Auswirkungen haben.
Bis heute gibt es in der Öffentlichkeit kein ausreichend klares Bild über diesen Grenzkrieg, der vier Wochen dauerte und mit einer demütigenden Niederlage der indischen Armee endete. Natürlich stellten die USA das kommunistische China als Aggressor hin, Indien hingegen als Opfer. Aus ideologischen Gründen(Spaltung der kommunistischen Weltbewegung) wurde diese Sichtweise auch von der Sowjetunion vertreten. Während der Krieg in China bald vergessen war, wurde er für Indien zu einem nationalen Trauma, das bis heute deutliche Spuren hinterlassen hat. Allerdings gab es schon damals Hinweise, dass ihm falsche politische und militärische Einschätzungen durch die indische Führung zugrunde lagen. Auch war China bis zu Beginn der 1960er Jahre bereit, mittels Verhandlungen eine Kompromisslösung für die territorialen Probleme zu finden. Es bot an, seine Ansprüche auf das ehemalige Südtibet (der heutige indische Bundesstaat Arunachal Pradesh) aufzugeben und damit die umstrittene Grenze im Nordosten Indiens (McMahon-Linie) anzuerkennen. Dafür sollte Indien im Nordwesten des Landes faktisches Niemandsland im gebirgigen Kleintibet (Aksai Chin), wo es nie eine Grenzziehung gegeben hat, China überlassen. Doch Indien war dazu nicht bereit. Mehr noch, es wollte mit einer sogenannten Vorwärtsstrategie seine Ansprüche durchsetzen. Indiens Grenzposten wurden in umstrittenen Gebieten immer weiter nach vorn geschoben, was China nicht tolerierte. Aus der friedlichen Koexistenz wurde nach den Worten Mao Zedongs eine „bewaffnete Koexistenz“, die schließlich in einem Krieg mündete.
Bereits 1963 lag der Regierung Indiens ein Bericht, der „Brooks-Bhagat-Report“ vor, der die Ursachen für die militärische Niederlage umfassend analysierte. Dieser wird jedoch bis heute unter Verschluss gehalten. Aber 1970 hatte Neville Maxwell, der 1962 Indien-Korrespondent der Londoner „The Times“ war, ein Buch unter dem bezeichneten Titel „India´s China War“ veröffentlicht. In ihm wies er die Behauptung einer chinesischen Aggression zurück und warf der indischen Führung eine Politik der Provokation und die Schuld am Ausbruch des Krieges vor. Der Verdacht, dass Maxwell damals Einsicht in das geheime Dokument nehmen konnte, wurde jetzt von ihm bestätigt. Maxwell, mittlerweile 88 Jahre alt und in Australien lebend, veröffentlichte dieser Tage den umfangreichen ersten Teil des Geheimberichts.
Nun könnte all das bereits zur jüngsten Geschichte Indiens und Chinas gehören. Das ist es aber nicht. Zum einen stellen die nun bestätigten Fakten dem damaligen Premierminister Jawaharlal Nehru, der alle Entscheidungen fällte, kein gutes Zeugnis aus. Das belastet das Ansehen der einflussreichen Nehru-Gandhi-Familie. Und Indien befindet sich im Wahlkampf, in dem der Urenkel von Nehru, Rahul Gandhi, Spitzenkandidat der Kongresspartei ist. Die Opposition stellt jedoch die Verdienste dieser Dynastie in Frage. Vor allem Narendra Modi schlägt auf Nehru ein, um natürlich Rahul Gandhi zu treffen. Wichtiger ist jedoch, dass der Grenz- und Territorialkonflikt mit China bis heute nicht gelöst ist. Die Lage, wie sie sich Ende 1962 grenzmäßig herausgebildet hat, besteht fort. Die chinesische Armee zog sich damals im Nordosten aus dem besetzten Gebiet bis zur McMahon-Linie zurück, hält aber das für China strategisch wichtige Aksai Chin im Nordwesten Indiens weiterhin besetzt. Das ist genau der Zustand, den China bereits in den 1950er Jahren durch Verhandlungen mit Indien herstellen wollte.
Ende Mai wird in Indien das neu gewählte Parlament erstmalig zusammentreten, eine neue Regierung wird gebildet. Wird sie die Kraft haben, die Schatten der Vergangenheit hinter sich zu lassen? Eine endgültige Lösung der Grenzfrage ist längst überfällig. Konflikt- und Unruhepotential zwischen beiden Staaten würden so aus der Welt geschafft, Ruhe könnte in strategisch brisante Gebiete einziehen. Vergleicht man die aktuellen Streitfragen Chinas mit Japan und einigen südostasiatischen Staaten mit denen zu Indien, so muss man letzteren eine nachgeordnete Rolle einräumen, denn hier besitzt China de-facto das, was es braucht. Es fehlt jedoch eine völkerrechtliche Absicherung. Und diese würde auch für Indien in seinem unruhigen Nordosten größere Stabilität bedeuten.
Xi Jinping hat mit seinen eingangs erwähnten Worten deutlich gemacht, dass sein Land sich stärker Indien zuwenden möchte. Der große Absatzmarkt Indien lockt, auch ein Teil seiner riesigen Devisenreserven könnte nützlich angelegt werden. Die indische Politik und Wirtschaft steht solchen Angeboten bisher mit Skepsis gegenüber, da Indiens aufstrebende Wirtschaft geschützt werden soll. Andererseits ist der Investitionsbedarf vor allem auf dem Gebiet der Infrastruktur gewaltig. Hier setzt China an: es ist bereit, in den nächsten fünf Jahren 300 Milliarden Dollar(!) in die indische Infrastruktur zu investieren. Experten beider Staaten haben sich schon geeinigt, mit einem umfassenden Ausbau von drei Eisenbahnstrecken zu beginnen. Indien könnte auch davon profitieren, dass sich China stärker dem Raum Südasien zuwendet. Noch in diesem Jahr wird in Tibet die Eisenbahnverbindung Leh – Shigatse fertiggestellt, die das chinesische Eisenbahnnetz dann fast bis an die indische Grenze führt. In Pakistan wird mit Milliardeninvestitionen der 2.000 Kilometer lange industrielle Korridor vom Arabischen Meer bis zum Karakorum in Angriff genommen. Dann wird Öl und Gas in Pipelines aus Nahost nach Westchina fließen. All das könnte sich positiv auf die noch vorhandenen regionalen Konflikte auswirken.
Die chinesische Global Times drückte jetzt unverhohlen ihre Sympathien für einen möglichen Machtwechsel in Indien mit einem neuen Premierminister Narendra Modi aus. Es heißt, dass Modi als Ministerpräsident von Gujarat gute Beziehungen zu China hergestellt hat, was zu beträchtlichen Investitionen chinesischer Unternehmer in diesem Bundesstaat führte. Die Zeitung, Sprachrohr der chinesischen Regierung, hofft in Zukunft auf eine echte Partnerschaft beider Länder, obwohl sie auch einschätzt, dass unter einer nationalistisch ausgerichteten Regierung Indien verstärkt nach strategischer Unabhängigkeit streben wird. Doch auch das würde dem chinesischen Bestreben nach einer multipolaren Welt, deren Kern eine vertiefte Zusammenarbeit vor allem Chinas, Indiens und Russlands sein könnte, entgegenkommen.
Schlagwörter: China, Edgar Benkwitz, Indien, Narendra Modi, Rahul Gandhi