17. Jahrgang | Nummer 10 | 12. Mai 2014

Die Poesie der Primzahlen

von Frank Ufen

Der 35-jährige Brite Daniel Tammet beherrscht zehn Sprachen, darunter Finnisch, Litauisch, Rumänisch, Walisisch und Isländisch, das er innerhalb einer einzigen Woche gelernt hat. Und er verfügt über die Fähigkeit, anspruchsvollste Rechenaufgaben in halsbrecherischem Tempo zu lösen. Vor zehn Jahren stellte er einen neuen Europa-Rekord auf, als er es schaffte, die Konstante Pi bis auf 22.514 Stellen hinter dem Komma korrekt zu rezitieren.
Dabei braucht er kaum Berechnungen durchzuführen. Meistens sieht er das Ergebnis sofort vor sich, weil sein Gehirn Zahlen mit bestimmten Farben, Figuren und Emotionen verknüpft. Tammet hat allerdings schon einige Mühe damit, rechts und links zu unterscheiden. Es fällt ihm schwer, die Gefühlswelt anderer Menschen intuitiv zu verstehen und ihre Mimik und Gestik zu entschlüsseln. Außerdem ist er ständig der Gefahr ausgesetzt, von Reizen überflutet zu werden. Um sich dagegen zu schützen, hat er sein Alltagsleben strengen Ritualen unterworfen. So isst er jeden Morgen exakt 45 Gramm Porridge zum Frühstück, trinkt jeden Tag zur exakt der gleichen Zeit Tee, und er kann erst dann seine Wohnung verlassen, wenn er alle Kleidungsstücke gezählt hat, die er gerade trägt. Tammet ist Synästhetiker, und er leidet am Asperger-Syndrom, einer leichteren Form des Autismus.
Merkwürdigerweise waren seine außergewöhnlichen Begabungen nicht von Geburt an vorhanden, sondern entwickelten sich bei ihm erst im Alter von drei Jahren nach einem schweren epileptischen Anfall. Heute führt Tammet ein weitgehend eigenständiges Leben. Nach jahrelangen mühsamen Experimenten hat er gelernt, Zahlen so zu benutzen, dass er sich im Chaos der gesellschaftlichen Welt einigermaßen zurechtfinden kann.
Kaum etwas scheint öder zu sein als sich mit der Kreiszahl Pi derart intensiv zu beschäftigen, bis man sie mit Zehntausenden von Nachkommastellen herunterbeten kann. Doch Tammet empfindet das ganz und gar nicht so. In seinem neuesten Buch beschreibt er anschaulich, was diese unendliche chaotische Ziffernfolge alles in seinem Kopf auslöst. Tammet weist außerdem darauf hin, dass man in der Kreiszahl, wenn man lange genug danach sucht, auf nahezu jede Ziffernfolge stoßen kann – beispielsweise eine Serie von 100 Fünfern oder 1.000 mal nacheinander das Ziffernpaar Null und Eins.
Erst recht in Japan ist Pi laut Tammet für etliche Überraschungen gut. So könnten dort ihre ersten neun Ziffern als „Ein Geburtshelfer reist ins Ausland“ verstanden werden. Denn im Japanischen klingen bestimmte Ziffernfolgen ähnlich wie Wörter oder ganze Sätze.
Tammet schreibt außerdem über Primzahlen und erläutert, was Gedichtformen wie die Sestine und das Haiku mit ihnen zu tun haben. Er befasst sich ausgiebig mit dem Phänomen Unendlichkeit und kommt dabei auch auf Giordano Bruno zu sprechen, der so konsequent war, nicht nur die Existenz unendlich vieler Welten zu postulieren, sondern auch das Auftreten unendlich vieler Sündenfälle und Jesusse. Aber nicht genug damit. Tammet erklärt, was Tolstois Monumentalroman „Krieg und Frieden“ mit der Infinitesimalrechnung zu tun hat, und er hat über die Tricks angeblicher Gedankenleser ebenso Aufschlussreiches zu sagen wie über die Gedankenwelt von Mohammed, Pythagoras oder Georg Cantor.
Einige Kapitel dieses Buchs sind ziemlich langatmige Exkursionen in die Geistesgeschichte und bieten kaum mehr als Präsentationen von Lesefrüchten. Doch wenn Tammet auf sein eigentümliches Verhältnis zu Zahlen näher eingeht oder wenn er Beziehungen zwischen Alltagsphänomenen und Mathematik analysiert, ergeben sich oft verblüffende Einsichten. Ein Buch, das für vieles die Augen öffnet.

Daniel Tammet: Die Poesie der Primzahlen, Hanser Verlag, München 2014, 317 Seiten, 19,90 Euro.