von Walter von Bothmer
Seit Monaten führt das „Schlafwandler-Buch“ von Christopher Clark die Bestsellerliste an. Doch was ist dran an der Behauptung, alle seien irgendwie in den Ersten Weltkrieg „geschlafwandelt“? Darauf gibt das Buch des französischen Historikers und Archivars Camille Bloch über „Die Ursachen des Ersten Weltkrieges“ eine klare Antwort: Nichts. Obwohl bereits 1933 in Paris und 1935 in deutscher Übersetzung in Zürich erschienen, ist es keineswegs überholt.
Anders als Clark befasst sich Bloch nicht mit der Psyche der europäischen Staatsmänner und besteht als kenntnisreicher und überaus bewährter Archivar auf der „historischen Methode“. Er lehnt Behauptungen oder Interpretationen ab, die sich auf Dritte oder fremde Autoritäten gründen, der Spekulation Tor und Tür öffnen und somit die Geschichte verfälschen. Bloch lässt die Fakten sprechen, stützt sich allein auf die Quellen, räumt dabei „dokumentarischen Zeugnissen den größtmöglichen Raum“ ein und verzichtet bewusst auf „literarische Wirkung“. Gleichwohl liest sich sein Buch wie ein moderner Politik-Thriller, ohne dass es in Verdacht gerät, undifferenziert oder leichtfertig arrangiert worden zu sein. Jeder historisch interessierte Leser kann die Feststellungen Blochs anhand der Quellen überprüfen. Präzise arbeitet er das Wesentliche heraus, konzentriert sich auf den Verlauf und die Hintergründe der Julikrise 1914, die dem Ersten Weltkrieg vorausgegangen ist, und darauf, was die Vertreter der verschiedenen Mächte gesagt und wie sie ihr Handeln erklärt haben.
Im Wesentlichen stellt Bloch zwei Thesen auf. Zum einen: In der enormen Menge der bis zum Tag des Erscheinens seines Buches veröffentlichten Dokumente findet sich – und so ist es auch heute noch – kein Indiz dafür, welches zu der Annahme berechtigt, dass es ohne die konzertierten Aktionen der deutschen und österreichischen Machthaber im August 1914 zu einem Krieg gekommen wäre. Ebenso wenig lässt sich aus den Quellen ein Nachweis ableiten, der in irgendeiner Form dafür spricht, dass Serbien, Russland, Frankreich oder England in der Julikrise 1914 zum Krieg getrieben oder ihn bereitwillig in Kauf genommen hätten. Zum anderen: Die Bemühungen der vier genannten Mächte, den Frieden zu erhalten, haben deren Gegner bis Ende Juli anerkannt. Erst als die diplomatischen Finten zu nichts mehr taugten und aller Welt vor Augen stand, wer das Räderwerk des Krieges in Gang gesetzt hat, bezichtigte man den Feind der Aggression, gegen die man gezwungen sei, sich verteidigen zu müssen.
Obwohl Bloch streng wissenschaftlich-quellenkritisch argumentiert, bestätigt er weitestgehend die Einsichten von deutschen Kritikern der kaiserlichen Kriegs- und Katastrophenpolitik wie Richard Grelling, Hermann Fernau, Hellmut von Gerlach oder Friedrich Wilhelm Foerster. Zugleich nimmt er damit in den Grundzügen die Ergebnisse jener Forschungen vorweg, zu denen der Hamburger Historiker Fritz Fischer Jahrzehnte später gelangt ist. Bloch bleibt in seiner Darstellung sachlich, Verharmlosungen und Verdrehungen findet man bei ihm nicht. Nach Anklagen sucht man ebenso vergebens wie nach Entlastungslegenden wie „Wir sind alle hineingeschliddert“ oder „Alle waren Schlafwandler“. Des Weiteren enthält er sich eines rechtfertigenden Tones – ganz im Unterschied zu vielen deutschen Abhandlungen oder Verlautbarungen.
Daran knüpft sich die Erkenntnis: Je vehementer Historiker und Journalisten – mögen sie aus dem In- oder Ausland kommen – sich heutzutage schützend vor ein autokratisches Regime stellen, das nach innen wie außen auf Gewalt und nicht auf demokratischen Grundlagen und den Werten von Frieden und Freiheit beruhte, umso mehr erweist sich das längst Widerlegte offenbar von bleibender Aktualität. Wie schon die nach 1914 überzeugten Propagandisten deutscher Unschuld verteidigen ihre Nachfahren nach hundert Jahren jene deutschen Machthaber, die Europa und die Welt in den Abgrund gestürzt haben. Wilhelm II., Moltke, Bethmann-Hollweg und in deren Gefolge Hindenburg, Ludendorff und auch Hitler hätten vermutlich ihre Freude daran. Camille Bloch dagegen hält sich an Tatsachen und führt mit seinem Buch nicht zuletzt dem deutschen Leser vor Augen, dass es bei der Frage nach den Ursachen des Ersten Weltkrieges vor allem darum geht, genau hinzuschauen und zu ermitteln, wo Ross und Reiter zu finden sind.
Einsichten wie die von Friedrich Meinecke, der in seiner 1946 veröffentlichten Schrift „Die deutsche Katastrophe“ den preußisch-deutschen Militarismus als „diejenige geschichtliche Macht …, die den Aufbau des Dritten Reiches wohl am stärksten gefördert hat“, bezeichnete, lehnen jene Historiker und Journalisten, die die Schuld des Hohenzollernregimes am Ersten Weltkrieg leugnen, ausnahmslos ab. Sie stützen sich dabei auf eine besondere Art des Umganges mit dem Phänomen Preußen in der deutschen Öffentlichkeit und Historiografie. So klammerte zum Beispiel die in Berlin 1981 gezeigte große Preußen-Ausstellung den Ersten Weltkrieg einfach aus, obwohl oder gerade weil der Militarismus preußisch-deutscher Provenienz im besetzten Belgien, Nordfrankreich oder Litauen Blüten getrieben hat, die in vielerlei Beziehung auf das hinweisen, was im Zweiten Weltkrieg an Gräueltaten von der Wehrmacht begangen worden ist. Umgekehrt unterschlug 23 Jahre später die vom Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin organisierte Ausstellung nebst ihrem Begleitkatalog „Der Weltkrieg 1914-1918“ den preußischen Militarismus. Es spricht für sich, wenn Michael Geyer darin in seinem Beitrag „Urkatastrophe. Europäischer Bürgerkrieg. Menschenschlachthaus – Wie Historiker dem Epochenbruch des Ersten Weltkrieges Sinn geben“ weder den Namen Fritz Fischers, nach wie vor der bedeutendste und international am meisten anerkannte deutsche Weltkriegshistoriker, nennt, noch die Begriffe „Preußen“, Militarismus“ oder preußischer Militarismus“ auch nur einmal verwendet. Mit anderen Worten: Seit vielen Jahrzehnten dreht sich die deutsche Zeitgeschichtsschreibung im Kreis beziehungsweise drücken sich, von einer geringen Minderheit abgesehen, die Historiker davor, Zusammenhänge zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, dem Kaiserreich und dem Dritten Reich zu erforschen und sichtbar zu machen. Es ist zu befürchten, dass sich das DHM mit seiner ab Ende Mai 2014 gezeigten Ausstellung, über den Ersten Weltkrieg, indem es – so die Ankündigung – „die europäische und globale Dimension des ‚Großen Krieges‘ verdeutlicht“ und den „Fokus der Ausstellung“ auf die „Eskalation der Gewalt“ erneut auf einen spielwiesen-anmutigen „Nebenkriegsschauplatz“ begibt und die zentralen Fragen nach der deutschen Schuld am und im Ersten Weltkrieg sowie nach dem Anteil des preußischen Militarismus daran – wenn überhaupt – nur am Rande behandeln und im Sinne des deutschnational anmutenden Clark europäisieren wird.
Nicht zuletzt Fritz Fischer hat im Anschluss an seine Forschungen über den Ersten Weltkrieg aufgezeigt, dass der preußisch-deutsche Machtwahn über den Ersten zum Zweiten Weltkrieg reicht, und insofern ist es nur „logisch“, dass die heutigen Revisionisten auch diese Erkenntnis als überholt und nicht vertretbar abqualifizieren, lächerlich machen und weiter zum Tabu erklären. Vor solchen Tendenzen ist mehr als zu warnen. Bereits in der Kontroverse um die Forschungsergebnisse Fischers empfahl der Wiener Historiker Rudolf Neck den Fischer attackierenden Historikern, wenn sie ihr „internationales Ansehen auf die Dauer nicht aufs Spiel setzen“ wollen, den weiteren Zusammenhängen nachzugehen, die die Epoche des Nationalsozialismus mit einer ferneren Vergangenheit verbindet, wobei [sie] sich nicht nur der ideengeschichtlichen Seite widmen [werden], sondern auch und gerade auf dem Gebiet der politischen und Machtgeschichte mannigfache Ansätze zum Dritten Reich in früheren Zeiten feststellen [können]. Von besonderer Beobachtung bleibt dabei die Zeit des Ersten Weltkrieges.“ Dabei stelle „die Frage der Kontinuität das Kernproblem der sogenannten ‚unbewältigten Vergangenheit‘“ dar. „Die Kontinuität steht für die ausländische Geschichtswissenschaft natürlich außer Zweifel; hier hätte für die deutschen Historiker die Revision des Geschichtsbildes einzusetzen.“
Camille Blochs Buch erweist sich als Antwort auf neuerliche Versuche der deutschen Unschuldspropaganda, dabei auf die Darstellung ausländischer Stimmen zurückgreifend, die Dritte Republik mitverantwortlich für den Ersten Weltkrieg zu machen. Es hält sich, obwohl eine der besten Antworten auf die deutsche Unschuldslüge, frei davon, ist zeitlos und behauptet seinen aufklärenden Charakter überall dort aufs Neue, wo, aus welchen Beweggründen auch immer, Historiker, Journalisten, Politiker und andere in ihren Argumentationen und Verlautbarungen der Unschuldspropaganda und den mit ihr verbundenen Niederungen das Wort reden.
Camille Bloch: Die Ursachen des Ersten Weltkriegs. Herausgegeben und mit einer Einleitung von Helmut Donat, Bremen 2014, Donat Verlag, 240 Seiten, 14,80 Euro.
Schlagwörter: Camille Bloch, Erster Weltkrieg, Kriegsschuld, Walter von Bothmer