16. Jahrgang | Nummer 23 | 11. November 2013

Attentat auf Europa – Bemerkungen zu einem „Schlafwandler“-Buch

von Helmut Donat

In der Familie des Historikers Christopher Clark gibt es offenbar eine ausgeprägte Neigung zu Schlafstörungen. Sein Bruder hat als Kind stark schlafgewandelt, ihn selbst plagen nach eigener Aussage noch heute Albträume. Das ist nichts Besonderes. Viele Menschen klagen über Schlafstörungen. Wenn Sie aber beginnen, ihre Krankheit auf die Weltgeschichte zu projizieren, fällt es schwer, keine Satire zu schreiben. Clarks Behauptung, die Großmächte beziehungsweise Staatsmänner Europas seien als „Schlafwandler“ ungewollt in den Ersten Weltkrieg getaumelt, erweist sich bei genauerem Hinsehen als „Alter Wein aus neuen Schläuchen“. Gleiches ließe sich über den Zweiten Weltkrieg, den Vietnam-Krieg oder den Krieg in Afghanistan sagen. Dass die Anstifter eines Weltenbrandes hinterher in der Regel nicht gerade in Sack und Asche gehen, ist ein Allgemeinplatz, den Clark als Neuheit verkauft.
Ein Schlafwandlertum in Bezug auf Kriege, welcher auch immer, hat es nie gegeben. Es ist blanker Unsinn, und wer so „argumentiert“, ist mit Fug und Recht nicht mehr ernst zu nehmen, weil er jede Rationalität vermissen lässt. Nach Clark waren die europäischen Staatslenker „vollbewusste Menschen, die sehenden Auges in diese Katastrophe hineingelaufen sind, aber ihr Tun war zum Teil bedingt von einer sehr begrenzten Rationalität, von einem begrenzten Bewusstsein der Folgen ihres Tuns“ so sein Reden am 3. November 2013 in Phoenix-TV. Und von diesem „begrenzten Bewusstsein“ sollen alle Vertreter der europäischen Mächte geprägt oder erfasst gewesen sein? Tappten sie also doch herum wie „Schlafwandler“?
Es steht fest, dass Edward Grey, englischer Außenminister, Hellmuth von Moltke, deutscher Generalstabschef, Raymond Poincaré, Präsident der Dritten Republik, und all die anderen nicht unter Mondsüchtigkeit oder ähnlichem litten. Wer es dennoch glaubt oder weiter tut, muss sich sagen lassen, dass sein Glaube oder Tun nichts mit der Realität zu tun haben.
Kriege brechen nicht aus und nicht – das muss man offenbar wieder besonders betonen – über die Menschen gegen ihre Macht und gegen ihren Willen herein. Sie stellen keine Katastrophe im Sinne eines Naturereignisses dar, sondern werden von Menschen gemacht und verursacht. Beim Forschen nach der Urheberschaft eines Krieges ist zu fragen: Wer will überhaupt Krieg? Wer nicht danach fragt, ist an der wirklichen Urheberschaft nicht interessiert, sondern ihm geht es um etwas anderes.
Arno Klönne hat recht, wenn er in Ossietzky am 26.10.2013 schreibt: „Clark will sich nicht damit auseinandersetzen, ‚warum‘ in Europa 1914 die erste moderne Kriegsmaschinerie zur Wirkung kam, sondern darstellen, ‚wie‘ es zu ihrer Auslösung kam.“ Folgende Fragen sind meines Erachtens zu stellen: Warum ist der Weltkrieg veranstaltet oder gemacht worden? Wer hat was getan, um ihn zu entfesseln, zu bekommen oder unausweichlich zu machen? Wer hat ihn aus welchen Gründen gewollt? Wer hat was getan, um ihn zu verhindern? Warum sind alle Vermittlungsversuche misslungen? Welche Folgen hat der Weltkrieg mit sich gebracht? Es geht um Fragen rationaler Art. Auf all diese Fragen antwortet Clark auf der Ebene der Verwendung und Inanspruchnahme bloßer Vermutungen und Voraussetzungen als erwiesener Tatsachen. Dazu ein Beispiel.
Clark zitiert in seinem Buch, wie Edward Grey und Winston Churchill auf das österreichische Ultimatum vom 23. Juli 1914 an Serbien reagierten. Grey nannte es „das furchtbarste Dokument, das ich je einen Staat an einen anderen Staat habe richten sehen“; Churchill sprach in einem Brief an seine Frau von dem „unverfrorensten Dokument dieser Art, das jemals geschrieben wurde.“ Daran knüpft Clark folgende Betrachtung: „Wir wissen nicht, welche Vergleiche Grey und Churchill im Sinn hatten; und die Besonderheit der historischen Situation, die durch die Verbrechen von Sarajewo herbeigeführt worden war, macht vergleichende Beurteilungen schwierig.“ Ein Satz, der mit „Wir wissen nicht“ beginnt, stellt nichts weiter als eine Vermutung dar. Auch dass „vergleichende Beurteilungen schwierig“ seien, ist nichts weiter als eine Vermutung. Wer zudem gewohnt ist, genau zu lesen und selber zu denken, gelangt zu dem Schluss, dass Grey und Churchill offenbar unabhängig voneinander in dem Ultimatum, das dazu bestimmt war, zunächst den Krieg gegen Serbien auszulösen, etwas Unvergleichliches, noch nie Dagewesenes sahen. Obwohl etwas Einzigartiges stattfindet, bringt Clark Vergleiche ins Spiel, die sich erneut als Mutmaßungen erweisen. Gerade weil die historische Situation eine besondere war, wird klar und ersichtlich, dass hier etwas Neues im Vergleich zu früheren Noten, Dokumenten geschieht, nämlich etwas hochgradig Verbrecherisches.
Bei Clark klingt es so, als dienten ihm seine Vergleiche dazu, die Aussagen Churchills und Greys besser einordnen zu können. In Wirklichkeit sucht er sie abzuschwächen, zu verwässern. Wie begründet Clark die „Besonderheit der historischen Situation“? Man staunt: Sie sei durch die Verbrechen von Sarajewo herbeigeführt, also durch das Attentat auf den österreichischen Thronfolger, serbisch-zersetzende Wühlarbeit et cetera. Hier wird behauptet: Die Verbrechen von Sarajewo seien für die historische Situation, die aufs engste mit dem Ultimatum vom 23.7.1914 zusammenhängen, verantwortlich. Tatsache aber ist, dass nicht das Attentat das Räderwerk des Krieges in Gang gesetzt hat, sondern der 5. Juli 1914, als die deutschen Machthaber den Österreichern eine Blankovollmacht erteilten und versprachen, mit ihnen durch dick und dünn zu gehen und das Ultimatum vom 23.7.1914. Nebenher: Mordanschläge auf gekrönte Häupter haben weder vor 1914 noch danach zu einem Krieg, geschweige denn einen Weltkrieg geführt.
Welche Schlussfolgerungen zieht Clark aus den „schwer vergleichbaren Beurteilungen“? Was er dazu schreibt, liegt wiederum auf einer spekulativen Ebene: „Aber es wäre mit Sicherheit falsch, die österreichische Note als einen anormalen Rückschritt in eine barbarische und längst vergangene Ära vor dem Aufstieg souveräner zu werten.“ Genau das aber war sie, denn darauf laufen die Urteile Greys und Churchills hinaus. Clark begründet seine Behauptung, indem er die österreichische „Note“ (!) als „deutlich zurückhaltender“ erklärt als das „Ultimatum“ (!) der NATO in dem „Serbien-Jugoslawien“ 1999 vorgelegten Rambouillet-Abkommen. Clark legt dem Leser nahe: „Verglichen damit waren die Forderungen der österreichischen Note harmlos.“ Das mag wohl sein, aber es nicht statthaft, Birnen mit Äpfeln zu vergleichen und dann zu sagen, die Birne ist harmloser als der Apfel. Die Jugoslawienkrise 1999 und die Julikrise 1914 haben nichts miteinander zu tun. Während das Ultimatum vom 23.7.1914 den Weltkrieg unausweichlich machen sollte, stand im Jugoslawien-Konflikt etwas annähernd Vergleichbares nicht zur Debatte.
Erneut hat Clark via „Interpretation“ neue „Tatsachen“ geschaffen. Greys und Churchills klares Urteil und Aufregung, sind „wegargumentiert“ und interessieren nicht mehr. Sie verstanden offenbar nicht, wie „harmlos“ doch das Ganze gemeint gewesen ist.
Nach diesem Muster hat Clark sein gesamtes Buch aufgebaut. Indem er die Tatsachen ignoriert und ständig mit Vermutungen herumhantiert, blendet er die Realität aus und serviert ein „Wunschbild“, vor allem das vieler Deutscher. Was  nicht in sein Bild passt, wird erst gar nicht erwähnt. Nehmen wir das oben zitierte Beispiel. Der Leser, der die Dinge nicht kennt, muss nach dem, was Clark behauptet, glauben, das Ultimatum vom 23.7.1914 sei doch gar nicht so scharf gewesen. Erwiesenermaßen ist aber das Umgekehrte der Fall. In der zeitgenössischen Presse ist diese Einschätzung zuhauf zu finden. So zitiert die Weimarische Volkszeitung vom 25.7.1914 unter der Überschrift „Preßstimmen zum österreichischen Ultimatum“, was die freikonservative Post dazu schreibt: „Ist das eine Note? Nein. Es ist ein Ultimatum. Und zwar ein Ultimatum in schärfster Form. Binnen vierundzwanzig Stunden verlangt Österreich die Antwort. Die Antwort? Nein. Die glatte Unterwerfung, die völlige Demütigung Serbiens. Die Note bietet so ziemlich das Äußerste, was man einer Regierung sagen kann, und man sagt dergleichen nicht, wenn man nicht in jeder Weise zum Krieg entschlossen ist … Es gehört die ganze politische Naivität des ‚Berliner Tageblattes‘ dazu, um in solchen Sätzen ‚nichts Verletzendes‘ zu finden.“ Wie sagte Herr Clark doch: „harmlos“. Um es mit der freikonservativen Post zu sagen: Naiver geht’s nimmer!
An Clarks Buch ist nicht interessant, was er schreibt – das ist die Wiederholung längst Gesagten und Widerlegten –, sondern was er nicht schreibt, weglässt, unterschlägt, ausblendet. Insofern stellt sein Buch ein „Blend- beziehungsweise Ausblendungswerk“ dar. Nach folgenden Autoren sucht man bei Clark vergebens: Richard Grelling, Kurt Eisner, Wilhelm Muehlon, Friedrich Wilhelm Foerster, Camille Bloch, Charles Bloch, Pierre Renouvin, Walter Fabian, Gerd Fesser, Wolfram Wette, Volker Ullrich, Lothar Wieland, Fritz Stern, Hermann Kantorowicz, Akexander von Hohenlohe, Heinrich Kanner, Hans Paasche, Hellmut von Gerlach, Hans-Georg von Beerfelde, Georg Friedrich Nicolai, Otfrid Nippold, Hermann Fernau, Samuel Zurlinden, Salomon Grumbach, Heinrich Ströbel, Otto Lehmann-Rußbüldt, Adolf Grote. Es handelt sich sämtlich um Persönlichkeiten und Werke, die keinen Zweifel daran lassen, dass die zivile und militärische Reichsleitung Deutschlands die Haupt- bis Alleinschuld an der Entfesselung des Ersten Weltkrieges trägt. Die Liste lässt sich erweitern.
Mit subalternen Kunststücken hat die deutsche Propaganda noch stets den deutschen Unschuldsstandpunkt gerechtfertigt. Das Buch von Clark unterscheidet sich von solchen Rechtfertigungslügen kaum. Clark behauptet, die zum Ersten Weltkrieg führende Krise sei „Frucht einer gemeinsamen politischen Kultur“ gewesen. Von welcher Kultur ist die Rede? Von der Beethovens und Goethes? Mit „Kultur“ hat die Krise nichts zu tun. Weder Frankreich, England oder Russland haben den status quo in Europa in Frage gestellt. Anders Deutschland. Es strebte danach, in Europa Eroberungen zu machen und seine Macht auszudehnen, nämlich auf einen mit dem Schwert erzwungenen mitteleuropäischen Großraum unter deutscher Führung, beruhend auf der Vernichtung der französischen Großmachtstellung, Beseitigung des englischen Einflusses auf dem Kontinent und Zurückdrängung Russlands. Das ist ein qualitativer Unterschied zum Imperialismus in Übersee. Es begeht damit ein Attentat auf Europa und auf die Kultur Europa, was etwas ganz anderes ist als die vielzitierte „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“. Wie man vor diesem Hintergrund vom „Ersten Weltkrieg als Produkt einer gemeinsamen Kultur“ sprechen kann, dürfte nicht nur mir rätselhaft bleiben. Selten – mit Verlaub – so einen Unsinn gehört! Kant, Goethe, Schiller, Lessing, Voltaire, Rousseau, Rolland, Dostojewski, Gorki, Tolstoi, Shakespeare, Dickens, Shaw et cetera erhalten im Nachhinein einen Stahlhelm aufgepfropft – und schon sind sie dabei. Beethoven im Schützengraben – das ist nichts weiter als die Sprachregelung der deutschen Kriegs- und Vor- und Nachkriegspropaganda. Clark vermischt das miteinander, wirft alles in einen Topf und rührt darin solange herum, bis am Schluss ein Gebräu übrig bleibt, das überall in gleicher Weise vorhanden gewesen sein und die Leute trunken, begrenzt wahrnehmungsfähig oder zu „Schlafwandlern“ gemacht haben soll. Wie gesagt, es fällt schwer, darüber keine Satire zu schreiben.

Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, DVA, München 2013, 896 Seiten, 39,99 Euro.