von Lutz Unterseher
Seit (knapp über) hundert Tagen ist Ursula von der Leyen Bundesverteidigungsministerin. Wie macht sie ihren Job? Folgt sie eingefahrenen Spuren oder ist sie – im nicht-geografischen Sinn – von der Leine? Um dieser Fragestellung nachgehen zu können, empfiehlt sich ein Blick auf die Situation, die von ihr vorgefunden wurde. Sehr bald war ihr klar, dass die Bundeswehr vor allem an zwei Problemkomplexen leidet: zum einen an der „Interventionsmüdigkeit“ von Wahlvolk, Politik und Truppe und zum anderen an den typischen Rekrutierungsschwierigkeiten einer Freiwilligenarmee, die dadurch verschärft werden, dass wegen sinnloser internationaler Statuskonkurrenz eine Reduzierung der geplanten militärischen Präsenzstärke ausgeschlossen wurde.
Im Rahmen der NATO sowie durch eine „Koalition von Willigen“ wurden in der ersten Dekade dieses Jahrtausends zwei große Militärinterventionen begonnen, die ihre Ziele – Stabilität, Demokratie, Schutz der Menschenrechte – nicht erreichen konnten. An einer dieser Unternehmungen, in Afghanistan, ist auch Deutschland beteiligt. Obwohl die Bundeswehr sich auf eine der ruhigeren Regionen konzentrierte, tat sie sich doch schwer: Das Heer als der eigentliche Träger der Mission hatte Probleme, die der Allianz zugesagten Truppen zu entsenden, und es haperte bei der Ausrüstung. Letzteres vor allem deswegen, weil die Luftwaffe den anderen Teilstreitkräften im Hinblick auf Investitionsmittel das Wasser abgräbt. Und: Man blieb Okkupant, der afghanischen Kultur fremd.
Die Unterstützung der deutschen Bevölkerung nahm während der Zeit des Einsatzes ab, und der Politik gelang es nicht, das Engagement für die „Freiheit am Hindukusch“ nachhaltig zu begründen. Es entwickelte sich eine Stimmung, die eine völlige Ablehnung der Beteiligung an Militärinterventionen nahelegt.
Die Entsprechung dazu bildet die Lage der Streitkräfte. Nach dem Übergang der Bundeswehr zur „reinen Freiwilligkeit“ kamen die Turbulenzen einer noch lange nicht abgeschlossenen Reform: Re-Organisation der Führung, Strukturanpassungen innerhalb der Teilstreitkräfte, Rückzug aus der Fläche. Hinter der Interventionsfähigkeit steht also ein Fragezeichen.
Die Bundeswehr vermag es bereits heute nicht, genügend qualifiziertes Personal zu gewinnen. Künftig aber werden die Streitkräfte entweder ihren Aufwand dafür enorm steigern müssen, was wegen fiskalischer Grenzen unrealistisch ist, oder ihren Präsenzumfang drastisch zu senken haben. Dieses Dilemma liegt in der demografischen Entwicklung begründet, aus dem man sich nicht dadurch befreien kann, dass ganz einfach „viel mehr“ Frauen angeworben oder die Tauglichkeitskriterien gesenkt werden.
Statt des immer noch angestrebten Umfangs von über 180.000 Bundeswehrangehörigen hat der Deutsche Bundeswehrverband einen solchen von 140.000 ins Gespräch gebracht. Doch ließe sich das Problem der Personalgewinnung fiskalisch entspannter angehen, wenn künftig mit einer Präsenz von nur noch höchstens 125.000 gerechnet würde.
Wenn auch die militärischen Möglichkeiten der Bundesrepublik begrenzt erscheinen, steht dieses Land, mit dem viertstärksten Wirtschaftspotential auf Erden, doch unter Erwartungsdruck – von Seiten der Weltgemeinschaft und seiner Bündnispartner. Dieser Druck hat freilich nicht im Sinne eines unausweichlichen Zwanges gewirkt. Berlin hat es wiederholt verstanden, sich der Bündnistreue zu entziehen – wenn ein Mitmachen innenpolitisch inopportun erschien.
Der Außenminister und die Verteidigungsministerin der neuen Großen Koalition werben nun dafür, Deutschland wieder eine „aktivere“ Rolle in der Welt spielen zu lassen – eine Rolle, die den flankierenden Gebrauch militärischer Mittel nicht mehr weitgehend ausschließt. Warum dieser Wandel? Konzentrieren wir uns auf die Perspektive der Bundesverteidigungsministerin!
Die Transition aus dem wohlfahrtsstaatlichen Sektor ist ihr gelungen, und zwar dadurch dass sie sich als „Mutter der Kompanie“ einführte, welche die Sorge um die soziale und familiäre Situation der Soldatinnen und Soldaten umtreibt. Plausibel, weil sie damit nicht nur an ihre früheren Rollen im Bundeskabinett anknüpfte, sondern auch die Aufmerksamkeit auf Schwachstellen der Streitkräfte lenkte, deren Behebung für die Werbung von Freiwilligen essentiell ist.
Per Sozialpolitik ist aber keine Armee zu führen. Und da mit einer auf Territorialschutz festgelegten Bundeswehr weder international noch in der eigenen Regierung Staat zu machen ist, schien ihr eine Rückkehr zur Interventionspolitik unumgänglich. Wenn es somit erneut um Militärinterventionen gehen soll, dann sind aber Krisen zu bevorzugen, die keinen allzu großen Aufwand erfordern. Damit wird zum einen auf die mangelnde Unterstützung der Bevölkerung für militärische Großunternehmungen und zum anderen auf die strukturellen und planerischen Probleme der Bundeswehr Rücksicht genommen.
Vor diesem Hintergrund ist von der Verteidigungsministerin (auch vom Außenminister) „Afrika“ in den Brennpunkt des Interesses gerückt worden. Dieser Kontinent liegt uns Europäern nicht nur geografisch und wegen der kolonialen Vergangenheit nahe, sondern auch weil von dort Flüchtlingsströme kommen, von denen manche seltsamerweise meinen, sie seien durch Militärinterventionen signifikant zu verringern.
Solche Interventionen gab es in den letzten Dekaden recht häufig. Dabei waren in der Regel nur relativ bescheidene Truppenkontingente erforderlich, deren Missionsdauer sich meist in Grenzen hielt. Genau so etwas kommt der neuen deutschen Militärpolitik entgegen. Der Vorteil der dafür zuständigen Minister ist, dass sie sich dabei auf dem Gebiet der high politics, der engen Kooperation mit wichtigen Verbündeten, profilieren können – vielleicht zu Lasten der Kanzlerin.
Nehmen wir einmal die Promoter der neuen Politik beim Wort, dass es nämlich um in Umfang und Dauer begrenzte Aktionen gehen soll! Legt das nicht eine drastische Verkleinerung der Bundeswehr nahe, um sie von Engpässen fiskalischer und personeller Art zu erlösen? Wenn es dann im Hinblick auf Investitionsmittel und Personal eine relative Besserstellung des Heeres gäbe, wäre die Truppe vermutlich eher als heute geeignet, Aufgaben unter der Ägide der Vereinten Nationen zu übernehmen (die laut Grundgesetz einzig in Frage kommen können).
Die bisherige Amtsführung der Ursula von der Leyen lässt allerdings nicht erkennen, dass sie beabsichtigt, die Weichen im Sinne einer Armee zu stellen, die kleiner, funktionstauglicher und eindeutig an einer Aufgabenstellung orientiert ist, die langfristig konsensfähig erscheint: nämlich Friedensunterstützung. Die von ihr erwogene Senkung der Tauglichkeitsstandards für Freiwillige spricht dafür, dass sie die zu hohe Präsenzstärke der Bundeswehr noch länger halten will und in den alten Statuskategorien denkt. Bisher gibt es auch keinerlei Hinweis dafür, dass die Ministerin der für Missionen der Friedensunterstützung untauglichen Luftwaffe Ressourcen zugunsten des Heeres entziehen möchte. Auch in diesem Kontext also ein bekanntes Muster: Einvernehmen mit der Luftfahrtindustrie und Akzeptanz einer Bewaffnungsstruktur, die an weitreichenden Bestrafungsschlägen orientiert ist.
Bisher jedenfalls ist Frau von der Leyen also durchaus an der Leine. Nur einmal schien sie, ganz kurz, von der Leine zu sein – allerdings in problematischem Sinn: als sie nämlich angesichts der russischen Annexion der Krim Truppenverlegungen an die NATO-Ostgrenze forderte. War das ernst gemeint? Wir wissen es nicht. Auf jeden Fall sollte es der Profilierung dienen. Doch die Ministerin hatte ihre Rechnung ohne die Kanzlerin gemacht.
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