von Wilfried Lulei
Angesichts von Völkermord in verschiedenen Regionen der Welt wird immer wieder kontrovers diskutiert, ob und unter welchen Bedingungen ausländische Truppen zum Schutz der Zivilbevölkerung eingreifen können, dürfen oder sogar eingreifen müssen. Die Entscheidungen sind sehr unterschiedlich und werden meist nicht im Interesse der betroffenen Menschen, sondern unter machtpolitischen Gesichtspunkten gefällt. Ein Beispiel ist der Sturz der Roten Khmer durch vietnamesische Truppen 1979.
Im Januar 1979 besiegten vietnamesische Truppen das Pol-Pot-Regime in Kambodscha. Ihr Einmarsch im Nachbarland löste weltweit eine Welle der Empörung aus. Viele Regierungen, internationale Organisationen und Medien verurteilten die Invasion, reagierten mit großer Empörung. Vietnam geriet weltweit in Isolierung, wurde aus internationalen Verbänden ausgeschlossen, von vielen Staaten mit Embargo belegt. Es lässt sich durchaus fragen, ob das Vorgehen Vietnams in jeder Hinsicht geltendem Völkerrecht entsprach. War Vietnam berechtigt, kambodschanische Widerstandskräfte gegen das Pol-Pot-Regime mit militärischen Mitteln zu unterstützen? Man kann aber auch fragen, ob der Einmarsch in das Nachbarland die einzig mögliche Reaktion auf den Mord an der eigenen Bevölkerung und die ständigen aggressiven Aktionen gegen Vietnam war.
Noch mehr stellt sich allerdings die Frage, warum die meisten Gremien in der Welt vier lange Jahre der Völkermordpraxis der Roten Khmer tatenlos zugesehen hatten, diese nicht verurteilt und keinerlei Maßnahmen unternommen hatten, das Morden zu stoppen. Die Roten Khmer hatten nach dem Ende des zweiten Indochina-Krieges 1975 die Macht in Kambodscha übernommen und ein schreckliches Terrorregime errichtet, dem ungefähr drei Millionen Menschen zum Opfer fielen. Rund ein Viertel der Bevölkerung Kambodschas wurde ermordet oder starb an Folter, Hunger, Entkräftung, Krankheiten. Die Stadtbevölkerung wurde zwangsweise aufs Land umgesiedelt, Industriebetriebe, Krankenhäuser, Schulen wurden geschlossen. Hochschulabsolventen, Angehörige des bürgerlichen Mittelstandes sowie ethnischer Minderheiten, Würdenträger verschiedener Religionen wurden systematisch umgebracht, Bücher wurden verbrannt, das Geld abgeschafft. Kirchen, Tempel und Klöster wurden zerstört. Kinder von ihren Eltern getrennt. Zu den Opfern gehörten auch viele Vietnamesen, die in Kambodscha oder in den angrenzenden vietnamesischen Provinzen lebten.
Warum haben die Mächtigen der Welt kaum zur Kenntnis genommen, dass der vietnamesische Einmarsch dem Völkermord der Roten Khmer an der eigenen Bevölkerung ein Ende setzte? Warum hielten die UNO, viele Regierungen und internationale Organisationen auch nach dem Sturz Pol Pots an der Unterstützung der Roten Khmer fest und verweigerten demokratischen Kräften die Hilfe bei der Errichtung eines neuen demokratischen Kambodscha? Warum wurden machtpolitische Erwägungen über das Leben von Millionen Kambodschanern gestellt? Fakt ist, dass das vietnamesische Eingreifen, die Terrorherrschaft beendet und die Möglichkeit einer neuen Entwicklung eröffnet hat. Allerdings hatte die vietnamesische Führung die Situation in einigen Punkten nicht korrekt eingeschätzt.
Erstens hatte sie angenommen, dass die vietnamesischen Truppen als Befreier begrüßt würden, und nicht genügend berücksichtigt, dass es bei vielen Kambodschanern aus der Geschichte herrührende Ängste vor einer vietnamesischen Besetzung geben könnte.
Zweitens war sie davon ausgegangen, dass die internationale Öffentlichkeit den Sturz des Terrorregimes begrüßen und einer neuen kambodschanischen Regierung breite Unterstützung gewähren würde, so dass die vietnamesischen Truppen nach wenigen Monaten wieder das Land verlassen könnten.
Drittens musste sie die Erfahrung machen, dass die Lösung in Kambodscha kein regionales Problem war und dass die Möglichkeiten für ausländische Truppen begrenzt sind, bei der Konfliktlösung zwischen verschiedenen Kräften eines Landes als Vermittler zu wirken.
Tatsache ist, dass das Kambodscha-Problem erst einer Lösung näher kommen konnte, als internationale Gremien und die Großmächte bereit waren, neben ihren globalen Interessen auch die Interessen der unterschiedlichen Kräfte in Kambodscha und der Region Südostasien zur Kenntnis zu nehmen und sich in Kambodscha die kompromissbereiten und kompromissfähigen Kräfte durchsetzten. Diese rangen sich teilweise zu überraschenden und ungewöhnlichen Entscheidungen durch – und Vietnam zog seine Truppen ab und wirkte aktiv an einer politischen Verhandlungslösung mit. So war es möglich – obwohl längst nicht alle Probleme gelöst werden konnten – schrittweise die inneren kambodschanischen Kräfte friedlichen Regelungen näher zu bringen und die vietnamesisch-kambodschanischen Beziehungen zu normalisieren.
Diese Erfahrungen in Kambodscha sind auch für viele aktuelle Konflikte in der Welt relevant. Wer sich mehr für diese Problematik interessiert, dem empfehle ich: Diethelm Weidemann/Wilfried Lulei (Hrsg.): Kambodscha. Innere und äußere Aspekte einer Konfliktlösung. Centaurus Herbolzheim, 1998.
Prof. Dr. Wilfried Lulei, Historiker und Asienwissenschaftler, 1970-1996 tätig am Südostasieninstitut der Humboldt-Universität Berlin; 1992 Mitbegründer der Deutsch-Vietnamesischen Gesellschaft e.V.; Vorsitzender des Beirats der DVG.
Weitere Beiträge zum Thema Militärinterventionen erschienen in den Ausgaben 3/2014 bis 6/2014.
Schlagwörter: Kambodscha, Rote Khmer, UNO, Vietnam, Völkermord, Wilfried Lulei