17. Jahrgang | Nummer 8 | 14. April 2014

Der Frühling die schönste Jahreszeit

von Joseph Roth

Der Frühling, auch „Lenz“ genannt, ist die schönste Jahreszeit, die Saison der Kuckuckskonzerte und des Lerchengesangs, der grünen Welt- und Wiesenkostüme und der göttlichen Blütenfabrikation. Es ereignet sich, von Lyrikern in Reimen begrüßt, die bekannte Auferstehung der Natur, welche den Agrariern gehört, aber von diesen sehr menschenfreundlichen Besitzern den Ausflüglern ohne Unterschied der Partei umsonst zur Verfügung gestellt wird.
Die Sonne, ein radikal sozialistischer Leuchtkörper, eines der wenigen Objekte dieser Welt, deren private Ausbeutung deshalb noch nicht gelungen ist, weil es keine Groß-Himmels-Grundbesitzer gibt, diese Sonne nimmt sich die Freiheit, allen Menschen gleich zu leuchten und die dürre Haut des Hungernden ebenso zu wärmen wie den fetten Bauch des Satten.
Zu den Objekten in Kommunalbesitz gehören auch noch die bekannten Frühlingswolken, die „linden Lüfte“, von denen die deutschen Dichter leben, und der blaue Himmel, hinter dem sich der liebe Gott verbürgt, um ungestört die Bittgesuche der Menschen der Reihe nach zu erledigen.
Die sogenannten Zugvögel, lebendige Symbole der menschlichen Sehnsucht, kehren, unbelehrbar, wie Zugvögel sind, und einem unvernünftigen Drange gehorchend, aus den südlichen Ländern nach Europa zurück, das sie eigentlich gar nicht nötig haben. Bei diesen Tieren sind Instinkt und Überlieferung so mächtig, dass sie Konferenzen, Redaktionen, Produktenbörsen gar nicht merken und in harmloser Ahnungslosigkeit dort lieblich zwitschern können, wo der Mensch weinen muss. Diese Vögel zwitschern sogar in der Berliner Siegesallee.
Auch am Kurfürstendamm offenbart sich der Anbruch des Frühlings: Die Bettler enthüllen ihre Gebrechen und die vornehmen Spaziergänger ihre Frühlingstoiletten. Auf den Köpfen der Damen erblühen die neuen Strohhüte in verschiedenen von den Modeberichten vorgeschriebenen Formen. Die Frühlingsluft verursacht Pläne für die Sommerreise, welche die bedeutendste Frühjahrssorge der spekulierenden Menschheit ist.
In den Fabriken und Büros sind die Fenster geöffnet, und die Menschen des Achtstundentages dürfen den Lenz in gesetzlich zulässigen Kubikmetern genießen. Der unbegrenzte Genuss der linden Lüfte ist nur den Auserwählten gestattet und den Arbeitslosen. Jenen behagt es, diese sterben infolge des ungewohnten Vergnügens. Es ist nicht jedermanns Sache, in vollen Zügen zu genießen. So mancher stirbt dahin, weil er Freuden ohne Mittagessen nicht verträgt.
Sorglos aber leben die Auserwählten, der Aprilregen befruchtet die Felder – und Gottes Segen ruht auf ihnen. Sie leben wie die Lilien im Felde, für sie wachsen die Anzüge bei den Schneidern, und alle Mühlen mahlen hygienisches Weißbrot, das der Hausarzt vorschreibt […]
Deshalb ist der Frühling die schönste Jahreszeit.

Aus: Werke I, 1915-1923.