von Alfons Markuske
Wer von „Schönheit des Alters“ redet,
war noch nie dort und hat keine Ahnung.
Das Alter ist gekennzeichnet von Verfall und Krankheit.
Dabei ergeben sich trügerische Ruhephasen.
Aber die sind alternativlos nach einiger Zeit vorbei.
Erich Loest
Bis kurz vor seinem Tod schrieb Erich Loest Tagebuch. Die letzten Jahrgänge (2011 – 2013) sind gerade erschienen. Der Autor ließ es darin einmal mehr nicht an klaren Worten fehlen, zu welcher politischen Grundeinstellung sich zu bekennen er sich im Ergebnis seiner Lebenserfahrungen veranlasst sah: „Wer mich zum Feind erklärt, muss damit rechnen, von mir als Feind behandelt zu werden. Also bin ich Antikommunist.“ Die DDR differenziert – „nicht immer höre ich dieses Wort gern“ – zu sehen, war seine Sache nicht: „‚Die DDR ein Unrechtsstaat‘, wenn da einer Differenzierung verlangt, beschleicht mich der Verdacht, er wolle ablenken: Auch damals durfte niemand bei Rot über die Kreuzung!“
Sich diesen Schriftsteller so prononciert zum Feind zu machen, hat der Partei- und Staatsapparat der DDR allerdings auch wenig unversucht gelassen. 1957 – wie vor ihm bereits andere Intellektuelle, darunter Walter Janka und Gustav Just, – wegen angeblicher „konterrevolutionärer Gruppenbildung“ zu Zuchthaus verurteilt, verbüßte Loest siebeneinhalb Jahre in Bautzen II. Kombiniert mit Schreibverbot. Anschließend durfte er nur unter Pseudonymen veröffentlichen und brachte seine Familie vor allem mit Kriminalromanen und „Groschenheften“ für die populäre Blaulicht-Reihe durch. „[…] jede Erinnerung an diese Brotarbeit ist verflogen“, heißt es jetzt im Tagebuch.
Zeitgenössische Themen waren für ihn seinerzeit jahrelang tabu. Und wie ihn, als er zu diesen dann doch wieder zugelassen wurde, die Zensur im Zusammenhang mit seinem bekanntesten in der DDR, im Jahr 1978 publizierten Werk traktierte, das reichte Loest im Jahre 2003 noch für ein weiteres Buch: „Der Vierte Zensor. Der Roman ‚Es geht seinen Gang‘ und die Dunkelmänner“. 1981 schließlich siedelte Loest in die Bundesrepublik über. Dort wurde er mit seinem demonstrativen Antikommunismus allerdings auch nicht nur mit offenen Armen empfangen. Nachdem er sich wieder einmal unmissverständlich geoutet hatte, so vermerkt er im Tagebuch in einer Rückblende, „versickerte“ sein „Antrag, in die SPD aufgenommen zu werden, […] das sollte sich zweimal wiederholen“.
Unnachgiebig und immer wieder insistierend blieb er in seinen Auffassungen bis zum Schluss. So in seinem Votum, die Stasi-Unterlagen-Behörde „möge ihre Tätigkeit fortsetzen, solange noch ein Opfer Aufklärung“ erheische, und in seinem Kampf gegen das Tübke-Bild „Arbeiterklasse und Intelligenz“ in der Leipziger Universität, weil es unter anderem mit Paul Fröhlich jenen SED-Spitzenfunktionär verewigt, unter dessen Ägide 1968 die Leipziger Universitätskirche gesprengt worden war. So auch in seinem jahrelangen parallelen, zu seinen Lebzeiten nicht erfolgreichen Bemühen, der Uni ein ihre Opfer, zu denen er Ernst Bloch und Hans Mayer zählte, ehrendes Bild des Malers Reinhard Minkewitz mit dem Titel „Aufrecht stehen“ zu übereignen – mit der Verpflichtung, es an prominenter Stelle öffentlich zu präsentieren. Sein Urteil über den Maler Wolfgang Mattheuer, dem er attestierte, auch Werke nach dem Kanon des sozialistischen Realismus geschaffen zu haben, revidierte er nicht, ungeachtet vehementer Proteste der Maler-Witwe. Ebenso wenig ließ er sich davon abbringen, dem Dirigenten Kurt Masur, „in dem nicht wenige noch heute den wichtigsten Mann der friedlichen Revolution sehen“, seine „Heldenrolle“ abzusprechen. Der berühmte Aufruf der Leipziger Sechs vom 9. Oktober 1989, mit Masur als prominentestem Unterzeichner, habe, so Loests Diktum, vielmehr restaurativen Charakter getragen, habe „nichts anderes zum Ziel“ gehabt, „als die Stabilität der DDR und den Sozialismus zu sichern“. Als historische Augenblicksbewertung dürfte ihm da kaum zu widersprechen sein, auch wenn Masur später vielfach geehrt wurde – nicht zuletzt weil im veröffentlichten und damit dann auch im öffentlichen Bewusstsein ein anderes Urteil obsiegte. Dieses Beispiel dürfte im Übrigen exemplarisch sein für das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Geschichte – also zwischen dem, was war, und dem, was im Nachhinein darüber reflektiert wird. Und Helden wurden dabei immer auch schon gemacht. Dass deswegen jedoch keiner „Held“ war, der 1989 – wie Masur – mit für einen friedlichen Verlauf der Ereignisse sorgte, folgt zwar aus Loests, wie er selbst sagt, „Kernsatz“: „Wer die DDR reformieren wollte, wollte sie erhalten, wer die DDR erhalten wollte, wollte die deutsche Einheit nicht; so einfach ist das.“ Doch diese Sicht ist ebenso zutreffend wie eindimensional. Was bei historischen Verläufen eher selten der Fall ist.
Gewiss kann man Loest in Etlichem widersprechen, aber er liest sich allein angesichts unserer von political correctness, Geschlechterneutralität und allgegenwärtigen Euphemismen zur begrifflichen Verharmlosung von Negativem bis Scheußlichem verhunzten öffentlichen Sprache auch ob seiner Kanten und apodiktischen Urteile erfrischend und anregend.
Zugleich ist das Tagebuch eine berührende Chronik von Loests eigenem Altern. Ohne Larmoyanz, dafür mit einem gehörigen Schuss Selbstironie notiert er seinen fortschreitenden physischen Verfall, der ihm am Ende ohne stützende Hilfe praktisch keine Fortbewegung außerhalb der eigenen vier Wände mehr gestattete: „Um von meinem Stammplatz im Leipziger Gewandhaus wegzukommen, muss ich um einen Pfeiler herum eine Stützlücke von einem reichlichen Meter überwinden. Die letzten dreißig Zentimeter zwingen mich zum Abenteuer; ähnlich muss es in der Eiger-Nordwand zugehen.“ Und: „Binnen eines Jahres haben sich meine Beweglichkeit und meine Kondition halbiert.“ Aber auch dies: „Ein Zeitpunkt ist erreicht, den jeder Schriftsteller […] fürchtet: Keine Ideen mehr, der Ofen ist aus.“ Loests Fazit: „Gelindes Grausen, nun geht es auf die neunzig zu.“
Nach der Lektüre hat sich der Rezensent ein weiteres Mal gesagt: Das Jahrzehnt zwischen 80 und 90 muss ich nicht haben, wenn die Lebensqualität durch als dauerhaft quälend empfundene, irreparable gesundheitliche Leiden und Einschränkungen in einem Maße abgenommen hat, mit dem ich nicht leben will. Der Rezensent sagt ausdrücklich „will“, nicht „kann“.
Allerdings maßen sich hierzulande staatliche, kirchliche und andere Akteure immer noch an, dem Einzelnen im Fall einer solchen individuellen Entscheidung den Zugang zu schmerzfreien, andere nicht direkt in Mitleidenschaft ziehende Lösungen zu verweigern. Die dafür ins Feld geführten Argumente sind keineswegs alle in Bausch und Bogen zu verwerfen. Im Gegenteil – in einer durchkommerzialisierten, in nahezu allen Lebensbereichen nach betriebswirtschaftlichen Maßstäben auf Rendite getrimmten Gesellschaft wie der unseren ist insbesondere die Warnung vor Missbrauch im Sinne der Entsorgung der gebrechlichen oder auch nicht so gebrechlichen Alten unter Kostengesichtspunkten nicht nur nicht von der Hand zu weisen, eine solche Entsorgung läge vielmehr durchaus auf der Linie bloßer kapitalistischer Verwertungslogik. Trotzdem teilt der Rezensent Loests Überlegung: „Wer aus schwerer Krankheit keinen Ausweg sieht, wer Schmerzen oder Einsamkeit nicht mehr zu ertragen vermag, sollte stärker als bisher die Möglichkeit haben, sich aus eigenem Entschluss zu verabschieden. Er möge sich nicht vor einen Zug werfen, denn der Lokomotivführer erleidet einen Schock […]. Am einfachsten und andere am wenigsten belastend ist der Freitod durch Schlaftabletten. […] Ärzte sollten freimütiger über die nötige Dosis Auskunft geben. Die Abschlusspackung sollte rezeptfrei in den Apotheken zu kaufen sein. Meinetwegen mit einem schwarzen Bändchen drum rum. Die nette Verkäuferin murmelt: ‚Mein Beileid‘. Und tschüss.“
Die Gesellschaft verweigerte auch Erich Loest ein selbstbestimmtes Ende in Würde und ohne Angst sowie Schmerz. Er, der unter Höhenangst litt und von dem seine Lebensgefährtin Linde Rotta sich im Nachhinein fragte, wie er es in seinem schwer geschwächten Allgemeinzustand vom Krankenbett auf das Fensterbrett überhaupt schaffen konnte, setzte seinem Leben am 12. September 2013 durch den Sturz aus einem Krankenhausfenster ein Ende.
Erich Loest: Gelindes Grausen, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2014, 336 Seiten, 24,95 Euro.
Am 24. Februar wäre Erich Loest 88 Jahre alt geworden.
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