von Christian Morgenstern
Die Kanone sprach zur Glocke:
„Immer locke, immer locke!
Hast dein Reich, wo ich es habe,
hart am Leben, hart am Grabe.
Strebst umsonst, mein Reich zu schmälern,
bist du ehern, bin ich stählern.
Heute sind sie dein und beten
morgen sind sie mein und – töten.
Klingt mein Ruf auch unwillkommen,
keiner fehlt von deinen Frommen.
Beste, statt uns zu verlästern,
laß uns einig sein wie Schwestern!“
Drauf der Glocke dumpfe Kehle:
„Ausgeburt der Teufels-Seele,
wird mich erst der Rechte läuten,
wird es deinen Tod bedeuten.“
Für die meisten ist Christian Morgenstern der Dichter der „Galgenlieder“, der Vater Palmströms und des Herrn von Korf. Für ihn selbst war das nur Beiwerk. Auch Oskar Loerke, einer der wohl profundesten Kenner der Poesie der Zeit des Kaiserreiches und der ersten deutschen Republik, meinte: „Es wäre jedoch falsch, Morgenstern auf einen bescheidenen Momenthumoristen zu reduzieren.“ Er räumte jedoch ein, dass der „Zauber Morgensterns“ selten hinreiche, „aus Fremden Freunde zu machen“. Das hat viel mit des Dichters tiefer Hinwendung zu Rudolf Steiner und der Anthroposophie zu tun. Das bemühte Umsetzen philosophischer Systeme in Poesie tötet Letztere oft ab. Dennoch greifen wir immer wieder gern zu seinen Schriften und möchten unsere Leser anlässlich des 100. Todestages Christian Morgensterns – er starb am 31. März 1914 im Alter von 42 Jahren in Meran – ermuntern, einmal wieder dasselbe zu tun. Loerke nannte ihn einen „hohen, reinen Menschen“.
W. B.
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