„Die Bewahrung der Jugend vor ästhetischem
Schmutz ist lange nicht so wichtig wie das kleine
Eckchen Geistesfreiheit, das noch da ist.“
Kurt Tucholsky, Die Weltbühne, 1926
von Matthias Käther
Es fing alles ganz harmlos an. Als ich mich 2011 daran machte, für den Deutschlandfunk ein Feature über Groschenhefte zu schreiben, näherte ich mich diesem heiklen Literaturthema mit amüsierter Neugier. Immerhin handelt es sich um ein Lesephänomen des 20. Jahrhunderts, das schon aus soziologischen Gründen faszinierend ist. Wer las das? Wer schrieb das? Was steht in den Texten?
Schnell zeigte sich, dass die scheinbar harmlose Thematik ein Politikum war. Ein Abgrund tat sich auf – und sichtbar wurde ein Schulbeispiel für die Aggressivität und Destruktivität des deutschen Bildungsbürgertums in den letzten hundert Jahren.
Zunächst einmal fand ich keine echten Literaturexperten. Während in Amerika die „Pulp fiction“ längst Forschungsthema ist, gibt es hierzulande kaum akademisches Material dazu. Alles Wissen wurde bisher von Sammlern zusammengetragen. Eine Archivierung durch Bibliotheken fand nie statt. Die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig, die seit 1913 verpflichtet ist, von sämtlicher Literatur Belegexemplare aufzubewahren, erklärte Heftromane und Kolportage selbstherrlich zu Nicht-Literatur (auf der Basis welcher Parameter?) und verweigerte von Anfang an die Archivierung. Staunend registrierte ich mit fortschreitender Recherche eine geradezu infernalische Wut auf die Heftchen bei staatstragenden Institutionen in den letzten 100 Jahren – die Nachforschungen legten Exzesse der Vernichtung frei, die fatal an die Bücherverbrennungen der Nazis erinnern. In den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg wurden vermutlich hunderttausende Hefte durch Kirche und Schule beschlagnahmt, verbrannt, eingestampft. (Das heißt – bitte halten Sie inne – dass persönlicher Besitz unrechtmäßig entwendet wurde, das ist auch nach altem bürgerlichem Recht ein Strafbestand.) Der Hass ging soweit, dass die Berliner Polizei 1916 die Verleger sogenannter „Schundliteratur“ zwang, nicht nur ganze Heftreihen, sondern auch die Druckstöcke zu vernichten.
Aber auch in der Weimarer Republik, in der frühen BRD und in der DDR brannte bis in die 60er Jahre hinein Unterhaltungsliteratur auf Schulhöfen und Appellplätzen.
Ironie der Geschichte: Der Ausrottungsfeldzug gegen Heftromane und Trivialliteratur war so gründlich, dass wir von der Existenz vieler Werke heute nur noch wissen, weil ihre Gegner sie hämisch in ihren „Kampfschriften“ zitierten oder „Schwarze Listen“ zusammenstellten, um ihre Auslöschungspolitik besser organisieren zu können. Heute vermuten wir etwa, dass es um 1910 eine sehr amüsante Reihe mit einer weiblichen Detektivin gab. Schund? Das konnten die Gralshüter großer Literatur ruhigen Blutes behaupten. Den Gegenbeweis können wir nicht mehr antreten. Es ist wohl kein Heft der Vernichtung entgangen.
Einem Journalisten des 21. Jahrhunderts sticht sofort ein groteskes Element dieser literarischen Paranoia ins Auge: Der Fanatismus der Verfolger steht in keinem Verhältnis zum verfolgten Objekt.
Liest man die Hefte unvoreingenommen, stellt sich bald heraus, dass es sich in 99 von 100 Fällen um harmlose zeitverkürzende Geschichten ohne ideologischen Beigeschmack handelt. Freilich – es gibt krude Ausnahmen, etwa die unsäglichen Landserhefte. Auch ist nicht von der Hand zu weisen, dass diverse Heimat-, Arzt- und Liebesromane nicht unbedingt ein progressives Frauen- und Gesellschaftsbild vermitteln. Dem stehen tausende Abenteuer-, Grusel-, Scifi- und Krimiromane gegenüber, deren literarischer Wert sicher nicht groß ist, denen man aber – auch mit den Maßstäben der Zeit, in der sie erschienen – beim besten Willen nichts Subversives, Reaktionäres oder „Zersetzendes“ nachsagen konnte. Versuche der Diskreditierung sind denn auch meist kläglich gescheitert; man denke an den albernen Feldzug gegen Perry Rhodan in den Siebzigern. Der arme Erbe des Weltalls sah sich plötzlich als „Hitler des Universums“ verschrien. Heute erscheint mir diese These lächerlicher als die frühen Hefte der Reihe selbst.
Warum also diese hämisch-aggressive Hexenjagd auf einen Gegenstand, der die Aufregung eigentlich gar nicht wert ist?
So unangenehm der Gedanke vielen (auch linken!) Intellektuellen scheinen mag – die radikale Idee der literarischen Freiheit – schon früh proklamiert etwa von Tucholsky in mutigen Aufsätzen gegen das Schund- und Schmutzgesetz – ist noch längst nicht an allen Köpfen angekommen, die sich für tolerant und liberal halten. Das Bedürfnis des Menschen nach Eskapismus, also sich zeitweilig dem Alltag nicht nur räumlich, sondern auch mental zu entziehen, wird bis heute noch nicht genug gewürdigt. Da sitzt immer noch die Angst, ein schlechter Roman könne die Gesundheit eines Menschen verderben wie ein schlechtes Schnitzel. Noch in den achtziger Jahren war die Meinung gang und gäbe, Groschenliteratur verenge den Sprachschatz eines Menschen und verdumme ihn. Jetzt ist man allerdings so damit beschäftigt, diese Ängste auf das Internet und das Smartphone zu übertragen, dass viele Bedenkenträger vermutlich eher optimistisch gestimmt wären, käme ihr Kind mit einem Maddrax-Heft nach Hause.
Fest steht: Wir haben noch viel aufzuarbeiten. Nie ist es bisher einem deutschen Literaturhistoriker in den Sinn gekommen, dass es an der Zeit wäre, sich auch der anderen Bücherverbrennung zu widmen, den Anteil vieler Intellektueller und Pädagogen an einer restriktiven Literaturpolitik kritisch zu untersuchen, die kein Ruhmeskapitel ist und wesentlich finsterer als das Kapitel der deutschen Trivialliteratur selbst. Dass es an der Zeit wäre, der (oft jungen) Leser zu gedenken, die ihrer Lust an Unterhaltungsliteratur wegen verhöhnt und gedemütigt wurden.
Schlagwörter: Groschenhefte, Matthias Käther, Trivialliteratur