von Ulrike Krenzlin
Tod und Entführung. 1555 hatte Papst Paul IV., einer der nachdrücklichsten Kirchenreformer, angesichts der durch die Reformation heraufbeschworenen Krisensituation Michelangelo aufgefordert, die „unzüchtigen“ Stellen mit Geschlechtsteilen, direktem Blick in geöffnete Beine seiner Propheten aus der Schöpfungsgeschichte und die nackten Auferstehenden aus dem Jüngsten Gericht zu übermalen. Denn die Empörung darüber, den Allerheiligsten Raum der Christenheit, die Sixtina, damit zu entwerten, war verbreitet. Michelangelo lehnte ab mit der Begründung: „Der Papst möge die Welt in Ordnung bringen, dann bringen auch die Bilder sich bald in Ordnung.“ Als erster Künstler der Neuzeit setzte er sich in künstlerischen Fragen grundsätzlich mit seinen Auftraggebern auseinander. Das Gehalt des Hofkünstlers wird deswegen gekürzt.
Michelangelo diente mehren Päpsten – unter anderen auch Julius II., Leo X. und Clemens VII. Wir haben uns angewöhnt, seine Werke betont losgelöst von der Intuition ihrer Auftraggeber zu sehen, als reine Kunstwerke. Das ist falsch. Denn Zeit und Geist sind in der Personage der Zeit geronnen, gefiltert und modelliert.
Pontifex maximus Pius IV. ist nach Paul IV. zwar der mildere Reformer. Trotzdem werden „anstößige“ Bilder aus Kirchen entfernt oder übermalt. Nur für Michelangelo gilt – zu seinen Lebzeiten – eine Ausnahme. Schon der damaligen Welt erschien dessen Schöpferkraft aus demselben Geist geboren, mit dem Gott im Vorbeiflug – nur mit einer Handberührung – Adam das Leben geschenkt hat.
Übermalungen im Auftrag der Kurie nahm nach Michelangelos Tod der Braghettone („Hosenmaler“) Daniele da Volterra vor. Zwei Figuren des Freskos, den Heiligen Blasius und die nackte Heilige Katharina, schlug er gar von der Wand ab.
Seine letzte Arbeit, die Pietá Rondanini, ließ der altersmüde Michelangelo – wie ein non finito seines Œuvres – im Torso zurück. Maria zieht ihren toten Sohn zu sich hoch. Der Leichnam fällt in ihren Armen zusammen. Erschütternde Einheit von Tod und Leben. Michelangelo selbst legte sich am 13. Februar 1564 in seinem Haus am Marcello de’ Corvi in Rom nieder. Am 18. Februar abends stirbt er. Unter seinem Eisenbett befand sich eine Schatulle mit 9.985 Dukaten. Der Wert entspricht nach heutigem Kurs 80 Millionen Euro. Michelangelos Lebensstil war allerdings absolut spartanisch. In Kleidung und Wohnung verweigerte er seinen Auftraggebern Ebenbürtigkeit.
Unmittelbar nach dem Tod wird Michelangelos Leichnam von Cosimo I. de Medici in das Großherzogtum Florenz entführt. In seiner Heimat sollten die Gebeine des größten Künstlers aller Zeiten ruhen, der als uomo universale in der römischen Tradition der sieben freien Künste stand.
Julius II. und Moses. Mit einem Tabubruch begann Michelangelos Aufstieg 1505 in Rom. Papst Julius II. beauftragte Michelangelo mit dem größten Grabmal, das jemals gedacht worden ist. Er zahlte ein Grundgehalt von 100 Dukaten pro Monat, auch wenn jahrelang nicht gearbeitet wurde. Nicht einmal einen Entwurf legte er vor. Es existiert lediglich eine Beschreibung von den Biographen Vasari und Condivi. Das Grabmal war so groß geplant, dass seine Aufstellung einen Neubau von Sankt Peter erforderte, für den eilig der Altbau weichen musste.
Vierzig ganzfigurige Statuen sollten frei umgehbar im Chor stehen: darunter vierzehn Viktorien, zwanzig prigioni (Sklaven) in betörender Nacktheit und ganz oben: Moses und Paulus. Das Projekt wird von jedem Nachfolgepapst vertraglich erneuert. Das Grabmal selbst scheiterte an einem Papsttum, das sich im Größenwahn verstiegen hatte. Fertig geworden ist vom Juliusgrabmal lediglich eine Schauwand mit wenigen Figuren, abseits aufgestellt in San Pietro in Vincoli. Wir kennen daraus nur eine Gestalt genau. Den großartigen Moses mit seinen zwei Hörnern am Kopf. Das war die geniale Idee Michelangelos, auszudrücken, wie ein Auftrag von Gott Jahve, über eine Art Antenne, in den Kopf des auserwählten Moses gelangen und ihn zum Propheten erhöhen konnte.
Die Deckenfresken der Sixtinischen Kapelle. Dem Wettstreit (Paragone) um die Vorherrschaft von Plastik oder Malerei folgend, blieb Michelangelo der mittelalterlichen Tradition verpflichtet. Die Bildhauerei hatte für ihn den höheren Rang. Dennoch übertrifft der Ruhm seiner grellfarbigen Fresco-buono-Malerei an der Decke der Sixtina seine Plastik bis heute. Er entwarf und schuf dieses programmatische Werk im Auftrag Julius II. in den Jahren von 1508 bis 1512; die Enthüllung fand am 31. Oktoberstatt. Ihm gelang damit eine komplexe Neuinterpretation des theologischen Fundaments des Christentums. Kirchenväter-Schriften, die Hochscholastik hatten Höhepunkte der Bibelexegese zur Genesis vorgelegt. Doch am Ende des Mittelalters steckte die Theologie in einer tiefen Krise. Es erscheint uns heute so, also ob ein Künstler die Lösung fand. Denn Michelangelo war Kenner der Theologie und der antiken Literatur. Konkrete Berater haben fleißige Forscher nicht nachgewiesen. Entstanden ist eine Interpretation der Schöpfungsgeschichte, die weit über die Zeit hinausgeht und der bis um 1800 nicht widersprochen wurde.
Die christliche Kunst und ihre Glaubensinhalte gipfeln im Erfindungsreichtum dieser ungeheuren Bildabfolge, die mit der Erschaffung der Welt sowie Adams und Evas beginnt. Deren Sündenfall lässt nichts zu wünschen übrig. Die Sintflut mit Noahs Arche folgt. Flankiert wird das Ganze von Grisaillemedaillons mit Schlachten und Szenen aus dem Alten Testament, von den Propheten des Alten Bundes, den alles vorausschauenden Sybillen der Antike und nicht zuletzt von den Ignudi, jungen Männern und Frauen, die – körpernah inszeniert – lustvoll, erotisiert und tatenreich agieren. Alle Geschöpfe, die Gott in seinen sechs Tagwerken schuf, hat Michelangelo hier vergegenwärtigt.
Über 20 Jahre später wurde Michelangelo von Papst Clemens VII. beauftragt, in der Sixtina ein weiteres Fresco, ein Altargemälde mit der Darstellung des Jüngsten Gerichts zu schaffen, das er bis 1541 fertigstellte.
Die Dramaturgie Michelangelos in der Sixtina ist bis heute so gegenwärtig, als wäre man im Theater.
Täglich besuchen 18.000 Touristen die Kapelle im Vatikan. Sie wird durch diese Profanierung zunehmend zerstört.
In Architektur, Bildhauerei und Malerei schenkte Michelangelo der Welt weitere Werke, deren Glanz und Helligkeit sie erleuchten.
Zur Lektüre empfohlen – Volker Reinhardt: Der Göttliche. Das Leben des Michelangelo. München 2010. Der Autor (Historiker) kann an Kunstnähe, Sachwissen, Lesbarkeit und akribischem wissenschaftlichem Apparat schwer überboten werden.
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