17. Jahrgang | Nummer 4 | 17. Februar 2014

Radstädter Geschichtslektionen

von Wolfgang Brauer

Wer von Salzburg aus von der Tauernautobahn in das Ennstal abbiegt, passiert nach kurzer Zeit eine enge Schlucht, die auf der einen Seite von einer Lärmschutzwand und auf der anderen von einer mittelalterlichen Stadtmauer, flankiert von zwei dicken Rundtürmen, gebildet wird. Die Bundesstraße 320 läuft hier über die ehemaligen Stadtteiche Radstadts. An diesen Mauern wurde einst ein blutiges Kapitel der deutschen Geschichte zu Ende geschrieben.
Die Stadt strahlt Liebreiz aus – ein Tor, wer sich nicht ein wenig Zeit nimmt, auf der Fahrt zum Schladminger Ski-Zirkus einen Zwischenstopp einzulegen und sie zu durchstreifen. Radstadt ist mit etwa 4.800 Einwohnern nicht groß. Auf ihrer Längsachse durchquert man die Altstadt vom Steirertor entlang der Schernbergstraße über den Stadtplatz und die Hoheneggstraße bis zum Salzburger Tor in zehn Minuten. Aber nur wenn man langsam geht und jeden Gruß der freundlichen Einwohner ebenso freundlich erwidert.
Vom Salzburger Tor existiert genaugenommen nur noch der Name. Es wurde ein Opfer der Verkehrswegeplanung der Neuzeit. Das Steirertor steht noch. Hier riss man ein neben diesem stehendes Wohnhaus ab. Im Tor selbst hat sich heute ein „Trafik“ eingerichtet, dessen Verkäuferin mit Freundlichkeit und Geduld dem Reisenden auch eine einzelne 90-Cent-Briefmarke verkauft.
Die Radstädterinnen begegnen ihren Kunden mit Aufmerksamkeit und ungekünsteltem Interesse. Das kleine Städtchen hat drei Strickläden – eine Strick-Kultur-Gruppe ist derzeit mit dem Umstricken von mehreren hundert Mineralwasserflaschen beschäftigt – mit bezauberndem Angebot. Das führte dazu, dass ich einige Zeit vor der „Handarbeitsstube“ in der Karl-Berg-Gasse auf und ab ging, während… Ja, es war erbärmlich kalt, und ich hatte den Kragen hochgeschlagen und den Breitkrempigen in das Gesicht gezogen. Die Stadt liegt wie gesagt auf einem Hügel, und durch das Ennstal pfeift immer der Wind.
Die Verkäuferin wurde offenbar nervös ob des Typen, der vor ihrem Schaufenster herumlungerte. Am Morgen hatte Radio Salzburg von einem Menschen berichtet, der in einem Nachbarstädtchen einen Jogginganzug stehlen wollte und deswegen in Haft genommen werden musste. Ich hatte Glück. Niemand konfrontierte mich mit dem Vorwurf der „Besitzstörung“, einer sehr auslegbaren Gemeinheit im österreichischen Zivilrecht. Zwei oder drei Minuten auf dem falschen Parkplatz können recht teuer werden. „Die Störungshandlung muss den Besitz einer Sache entweder eigenmächtig beeinträchtigen bzw. verletzen […] Die Dauer und die Tageszeit der Störung sind für die Besitzstörungsklage nicht von Bedeutung.“ So die Definition der Wirtschaftskammer der Alpenrepublik – das hatte ich getan. Ich ließ mich für wenige Minuten auf der Schaufensterbank nieder und beeinträchtigte dadurch den Besitz dieser Sache. „Der ist ungefährlich, der gehört zu mir“, erklärte Gott sei’s gedankt die potenzielle Käuferin der Herrin der Wollknäuel, die daraufhin deutlich entspannter wirkte. In den Seifenladen („Radstädter Naturseifen“) ging ich vorsichtshalber gleich mit hinein. Die örtliche Polizeistation ist bei diesem um die Ecke. Auf „Besitzstörungssachen“ scheinen sich in Österreich ganze Anwaltskanzleien spezialisiert zu haben. Sie sind offenbar die Pioniergewächse der Abmahnanwälte bei Internet-Delikten.
Aber lassen wir uns nicht vom Liebreiz des Städtchen ablenken. Spazieren wir besser den „Milleniumspfad“ an der Stadtmauer entlang. 1.000 Schritte rund um Radstadt sollen 1.000 Jahre Geschichte beleuchten. Jeder Schritt also ein Jahr. Angelegt wurde der Pfad 1996, er soll an die Ersterwähnung „ostarrichis“ im Jahre 991 erinnern – der Pfad ist als patriotische Tat zu verstehen. Die Ersterwähnung der Stadt selbst ist erst für das Jahr 1074 verbürgt.
Mit „Besitzstörungen“ ist aber die „bedeutendste Epoche“ in der Geschichte der Stadt verbunden, die uns auf diesem Pfade immer wieder begegnet, der Bauernkrieg. Warum der als „bedeutend“ empfunden wird, darüber gehen die Meinungen auch heute noch auseinander. Vielleicht wird im Sommer die neue Dauerausstellung im Kapuzinerturm, einem der drei dicken Rundtürme der Stadtmauer, eindeutigere Auskunft geben. Sie wird sich dem Bauernkrieg widmen. Der Turm wurde 1530 von gefangenen Bauern errichtet.
Auch hier begann alles mit der Reformation. 1525 seien „christgläubige Bürger […] aneinander“ geraten, sagt die halboffizielle Stadtchronik. Die einen hätte sich zum „lutherischen Glauben“ erklärt, weil sie sich davon „mehr irdische Vorteile“ versprachen – die anderen hätten „am alten festhalten“ wollen, auch aus Furcht, dass ihnen durch „die Rebellion Schaden an Leib und Gut“ drohe. Der klassische Konflikt, der in Deutschland bislang allen Revolutionen den Garaus bereitete. Radstadt war damit sehr deutsch. Im Sommer 1525 schlug hier ein Fähnlein der salzburgischen Bauern unter Michael Gruber sein Hauptquartier auf. Am 3. Juli 1525 griff Gruber das in der Nachbarstadt liegende Heer des steierischen Landeshauptmanns Siegmund von Dietrichstein, eines üblen Schlächters, an: „Um 5 Uhr hab’ ich Schladming angefallen und erobert. Gott dem Herrn sei Lob, Ehr und Dank gesagt. […] denn die Edelleute seien der Meinung gewesen, uns zu überfallen und alle zu erwürgen.“ So Gruber in seinem Schlachtbericht. Das Heer der Bauern und Salzknappen schonte den gefangengenommenen Adel weitestgehend. Der dankte es, indem er im Herbst 1525 Schladming im Frieden überfiel und mit der Stadt alles verbrannte: „Männer und Weiber, Säuglinge und Greise, alles Lebende. Die Bauern aus der Nachbarschaft […] wurden zu Hunderten längs der Hauptstraße an den Feldbäumen aufgehängt.“ So beschreibt Wilhelm Zimmermann die Rache des Erzherzogs von Österreich. Zimmermanns Bericht erinnert verteufelt an das Wüten der Einsatzgruppen Heinrich Himmlers in Osteuropa. Und die 10. SS-Panzerdivision war nicht zufällig nach Georg Frundsberg, einem Landsknechtsführer, der auch durch das Salzburgische seine blutige Spur zog, benannt.
1526 kochte der Aufstand in Salzburg wieder hoch – diesmal unter Michael Gaismair, dem Schöpfer der „Tiroler Landesordnung“ und wohl fähigsten militärischen Kopf auf Seiten der Bauern überhaupt. Aber Radstadt versperrte den Rebellierenden diesmal die Tore. Gaismair scheiterte mit 5.000 Bauern an den Mauern der Stadt und musste am 4. Juli abziehen. Dieses Fiasko leitete das Ende des Bauernaufstandes im Süden des Reiches ein.
„Für ihre Treue“ erhielt die Stadt 1527 von Erzbischof Kardinal Matthäus Lang den „Großen Freiheitsbrief“, den Titel „Allzeit getreu“ und diverse Privilegien: die Salzniederlage, ein Handelsmonopol über die Tauern und die „Tafernen“ in vier umliegenden Dörfern, die wiederum Wein und Weißbrot nur in Radstadt kaufen durften. In kluger Vorausschau gewährten die Bischöfe den auf die „irdischen Vorteile“ bedachten Bürgern ebensolche, um dafür ihre politische und militärische Vormachtstellung auszubauen. Sicherheitshalber wurde 1528 der lutherische Prediger Georg Scherer enthauptet und in den Folgejahren baute man die Stadtbefestigung aus.
Die Fürstbischöfe hatten insgesamt den längeren Atem: 1732 wurden aus Salzburg die Protestanten vertrieben. Allein aus dem Gerichtsbezirk Radstadt wurden 3.100 Bürger des Landes verwiesen, 48 Prozent aller Höfe mussten verkauft werden. Die Stadt verlor 70 Prozent ihrer Einwohnerschaft. Acht Jahre später kam Leopold Mozart als Kammerdiener und Geiger des Reichsgrafen und Domherren Johann Baptist von Thurn und Taxis nach Salzburg. Da regierte der fanatische Protestantenvertreiber Fürstbischof Leopold Anton Eleutherius Reichsfreiherr von Firmian noch. Die Salzburger Pracht entstammt eben nicht nur dem ertragreichen Hallstätter Salzbergbau und dem Rauriser Gold. Sie beruhte auch auf dem Ausplündern der aus dem Lande gejagten eigenen Untertanen. Gute 200 Jahre später sollte sich der Vorgang mit ungleich blutigeren Dimensionen wiederholen. Um darüber Näheres zu erfahren, müssen wir aber den „Milleniums-Pfad“ verlassen.

Wird fortgesetzt.