von Ulrich Kaufmann
Aus dem Nachlass Gisela Krafts (1937-2010) ist eine gut lesbare, locker komponierte Autobiografie erschienen, die sie selbst nicht mehr abrunden konnte. Das Werk des „bunten Weibes“ (wie sie sich selbst gern nannte) lässt sich schwer einordnen. Die Lyrikerin, Erzählerin, Essayistin und Übersetzerin zog 1984 von West- nach Ostberlin, unternahm gemeinsam mit ihrer Katze Leila, die immerhin ein eigenes Kapitel erhält, einen „Storchenschritt von 7 km Richtung Ost“. War Gisela Kraft nun eine westdeutsche Schriftstellerin, anschließend für sechs Jahre eine DDR-Autorin oder macht es Sinn, sie eine Westberliner Dichterin zu nennen, da sie ebendort ein Großteil ihrer Schaffensjahre verbrachte? Gerade ihr Werdegang zeigt, wie schwer und unnötig es heute ist, mit solchen Schubfächern zu operieren.
Gisela Kraft, linke Weltbürgerin und Feministin, pflegte bereits vor ihrem viel diskutierten Ortswechsel (der ja seinerzeit ein Staatenwechsel war) enge Kontakte zur DDR, zu einigen ihrer Schriftsteller und Verlage. Besuche in der DDR und internationale Schriftstellertreffen (wie das 1980 in Mazedonien) boten vielfältige Möglichkeiten der Kontaktpflege.
Ein Hauptgrund für die Übersiedlung Gisela Krafts war ihr lang gehegtes, von der Eurythmie herkommendes Interesse am Leben und Werk des romantischen Dichters Novalis, dessen Wohn- und Arbeitsorte sich alle auf dem Gebiet der späteren DDR befanden. Halbernst notiert sie: „Ich dürfe in Hotels der DDR mit Mark der DDR bezahlen. Stempel, Unterschrift. Na bitte. Reisefreiheit pur. Novalis’ Heimat steht mir offen.“
Das Kulturministerium der DDR unterstützte das Novalis-Projekt mit einem Stipendium. Ihr Hauptwerk, eine Romantrilogie über Friedrich von Hardenberg, konnte sie 2006 beenden.
Erst in der DDR wagt die Dichterin den Schritt in die Freiberuflichkeit. Gisela Kraft fühlte sich in dem neuen Land gebraucht, in dem schon 1985 ihr Lyrikband „Katze und Derwisch“ in der Edition Neue Texte des Aufbau-Verlages erscheinen konnte. Vor allem war die promovierte Islamwissenschaftlerin als Übersetzerin und Nachdichterin aus dem Türkischen gefragt. Das Wirken der schon schwerkranken Dichterin erfuhr 2009 die Krönung, als man ihr den Wieland-Übersetzerpreis überreichte.
Wie eng die Kontakte Gisela Krafts zu Künstlern, Lektoren und Wissenschaftlern aus dem Osten waren, zeigen in ihrem nachgelassenes Buch die eigenständigen Kapitel über Max Walter Schulz und den Lektor Horst Lothar Teweleit sowie die einprägsamen Passagen zu Paul Wiens, Heinz Kahlau und ihrer Freundin Barbara Thalheim, mit der sie oft gemeinsam auftrat.
Die Lyrikerin Kraft war eine Bewunderin ihrer (jüngst verstorbenen) Kollegin Sarah Kirsch. Die erste Begegnung beider Dichterinnen, 1979 in Westberlin, verlief hingegen wenig harmonisch. Gisela Kraft verschweigt nicht, dass Sarah Kirsch hier gegen einige kollegiale Regeln verstieß.
Rudolf Bahro, der Visionär, bekommt am Ende des Buches ein besonderes Gewicht, als klar wird, wie der Buchtitel zu verstehen ist. Offenkundig waren beide deutsche Staaten nicht das, was sich die Dichterin vorstellte. „Kann es sein, dass Mein Land, ein anderes, das verloren-ungefundene, nicht aufhört, Zeichen zu senden, ferner, dass Bahro es offenbar genauer kennt, noch heftiger liebt und umso verzweifelter zu bergen versucht?“
Natürlich weiß die hochgebildete Gisela Kraft um das „Sündenregister“ der DDR. „Sie leidet unter der Enge des Landes, seiner Bürokratie und seinen hohlen Phrasen“, schreibt Martin Straub in seinem gediegenen Vorwort. Dennoch erinnert die Autobiografin mit Blick auf ihre Arbeitssituation an manches Positive in der DDR. In einer ironischen Grabinschrift nennt sie die DDR einen „Staat, der seine Dichter verwöhnte“, wohl wissend, dass dies wahrlich nicht für alle Dichter galt.
Ohne Larmoyanz spricht die Autorin von Verlusten im alltäglichen Leben, auf spezielle Privilegien schielt sie nicht. Gisela Kraft hat nun kein Telefon mehr und muss, da sie wie eine eingebürgerte „Ausländerin“ behandelt wird, zunächst ihren Pass abgeben. (Beiläufig vermerkt sie, dass diese Regelung für die Österreicher Maxie und Fred Wander nicht galt.) Die neue DDR-Bürgerin darf so nicht zum Begräbnis ihres Vaters nach Westberlin reisen. Und natürlich vermisst sie ihre Stammkneipen in Kreuzberg („Klein-Istanbul“), in die sie auch als Frau allein zu jeder Zeit gehen konnte.
Annäherungsversuche seitens der Staatssicherheit bleiben nicht aus. Rolf, der Verbindungsoffizier, wünscht zum Beispiel, Gisela Kraft möge auf die „extrem negativ“ agierende Barbara Thalheim „einwirken“. „Ich muss lachen, fasse mich aber, sage, dass ich keine Künstlerin kenne, die loyaler zur DDR steht.“
Das Buch, eine zweigeteilte „Collage“ (Straub), behandelt vor allem die Jahre 1984 bis 1997, somit die Zeitspanne zwischen ihrer Übersiedelung nach Ostberlin und ihrem Umzug nach Weimar. Das Arbeitsbuch beginnt und endet jeweils mit einer Ankunft, das heißt, dass Gisela Kraft ihre Thüringer Jahre bis 2010 in ihren Erinnerungen weitestgehend ausklammert. Die offene Form, der Verzicht auf eine strenge Chronologie, ermöglicht der Erzählerin zahlreiche Vor- und Rückgriffe. Entstanden ist so ein Mosaik aus Erinnerungen, Porträts, eigenen Gedichten und Fragmenten aus ihren früheren Büchern. Mitunter werden lediglich Leselisten oder wesentliche Lektüreerlebnisse festgehalten.
Die Erfahrungen des gesellschaftlichen Umbruchs 1989/90 sind für Gisela Kraft zweifellos schmerzlich gewesen: „jetzt bin ich wo ich war“, heißt es elegisch in einem wieder zitierten „Wende“-Vers. Vom Abschiednehmen und vom Tod ist die Rede, zumal einige ihrer neuen Freundinnen und Freunde zu Beginn der neunziger Jahre sterben. „Es ging mir schlecht. Mein erster Novalis-Roman, Prolog zu Novalis, erschienen im Herbst ’90, landete soeben auf jener Kippe, auf der ihn Pfarrer Weskott aus Katlenburg später auflesen sollte.“
Gisela Kraft: Mein Land, ein anderes – Deutsch-deutsche Erinnerungen, Edition AZUR, Dresden 2013, 202 Seiten, 19,90 Euro.
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