17. Jahrgang | Nummer 3 | 3. Februar 2014

Film ab

von Clemens Fischer

Gerade hat Edgar Snowden via Internet ein trotz NSA-Skandal und der Jagd der US-Behörden auf ihn offenbar ungebrochen optimistisches Bekenntnis zu seinem Heimatland abgegeben: „Was unser Land stark macht, ist unser Wertesystem, nicht eine Momentaufnahme der Strukturen oder unserer Gesetze. Wir können die Gesetze korrigieren, die Behörden in ihre Grenzen weisen, und die leitenden Beamten zur Rechenschaft ziehen.“ Und gottseidank gab und gibt es immer wieder solche Werte-Ethiker wie Snowden, Manning, Ellsberg, die jungen Woodward und Bernstein sowie zahlreiche andere, die den zivilisationsnotwendigen Glauben an die Überwindbarkeit gesellschaftlicher Missstände und die Verantwortung des Einzelnen dafür ein ums andere Mal neu beleben. Ohne die Zivilcourage dieser Menschen wäre nicht zuletzt die globale Faszination, die vom amerikanischen Wertesystem immer noch ausgeht, längst unter den zynischen, inhumanen, antidemokratischen und totalitäres Auswüchsen des dortigen Systems verschüttet.
Trotz ihrer oft spektakulären Einzelerfolge gleichen die Snowdens im Verhältnis zu den Gegnern, mit denen sie sich jeweils anlegen, aber letztlich leider nicht dem Siegertyp im Märchen von „Hase und Igel“. Und während diese Couragierten zu Legenden und Geschichte werden, schüttelt sich das System in temporärer Katharsis, und dann wird, noch in dieser Phase, der Riemen erneut auf die Orgel geworfen. Man blicke nur auf die jüngste Finanzkrise bis zur Lehman-Pleite und die Entwicklung seither.
Darüber sind Hekatomben trockener und lebendiger Artikel und Abhandlungen geschrieben worden und werden es auch weiter. Am Beispiel der kriminellen Jongleure der Finanzwirtschaft in Szene gesetzt worden ist dieser „ewige“ Zyklus aber selten grandioser als in Martin Scorseses neuem Film „The Wolf of Wall Street“: bis zum Untergang eine einzige Abfolge von Orgien an Betrug, Sex’n Drugs und natürlich vor und über allem – Money, Money, Money. Der amerikanische Traum in einer bis ins Mark verrotteten Finanzwelt: Jeder, der mindestens bauernschlau, skrupellos und mit einer kriminellen Grundenergie ausgestattet ist, hat einen Freifahrtschein, um als Broker, Aktienhändler ein Unternehmen mit dem alleinigen Ziel und Zweck aufzuziehen und jahrelang praktisch unbehelligt zu betreiben, gutgläubige oder an ihre Altersvorsorge denkende oder auch dumm-gierige und andere Zeitgenossen um ihr Geld zu betrügen. „Blasen schaffen und die Leute süchtig machen danach“, das sei der Kern des Geschäfts, erläutert ein Broker in einer der ersten Szenen.
Die finanziellen Größenordnungen, um die es dabei an der Wall Street geht, lassen zugleich die Carsten Maschmeiers hierzulande wie Provinzbauernfänger eines Formates erscheinen, das noch gar keines ist. (Kein Trost für Betroffene allerdings.) Und doch war der reale Jordan Belfort, der mit seiner Investmentfirma Stratton Oakmont vom Ende der 1980er Jahre bis 1998, als ihm das finanzkriminelle Handwerk gelegt wurde, 210 Millionen US-Dollar veruntreute und auf dessen Memoiren der Film beruht, nur ein ziemlich schaler Vorgeschmack auf das, was sich, mit globalen Folgen, an Spekulationen mit Schwindel- und Schrottpapieren nach der Jahrtausendwende an der Wall Street und in anderen westlichen Ländern abspielen sollte.
Scorsese ist für seinen Film vor allem in den USA viel gescholten worden: Glamouröse Inszenierung von Anlagebetrug; Glorifizierung von Kriminellen, ohne deren Opfer auch nur zu erwähnen; nie sei der Regisseur der Faszination des Dekadenten mehr erlegen gewesen – das sind nur einige der Vorwürfe. Sie stimmen alle. Was aber, wenn hier über der Kritik an den Mitteln und an der Art und Weise der Darstellung die Botschaft übersehen – vielleicht sogar vorsätzlich übergangen – wird? Als die Story schon fast beim Zusammenbruch des Belfortschen Imperiums angekommen ist, sagt der in einer Art finalem Hochamt unter den frenetischen Ovationen seiner Mitarbeiter: „Stratton Oakmont – das (Hervorhebung – C.F.) ist Amerika.“ Und das hieße – in einem Vergiftungszustand, an dessen Symptomen herumzudoktern keine wirkliche Heilung mehr bringt.
Dazu passen die abschließenden Einstellungen des Films: Der FBI-Ermittler, der Belfort zu Fall gebracht hat, fährt nach dem Dienst mit der heruntergekommenen New Yorker Subway in sein bescheidenes Mittelklassezuhause. Währenddessen steht der Finanzverbrecher, der auch im wahren Leben zu lediglich drei Jahren verurteilt wurde, weil er zum Schluss mit den Behörden kooperierte und all seine Mitgauner ans Messer lieferte, als Coach und Motivationstrainer, der er heute tatsächlich ist, selbstbewusst auf einem Podium vor hunderten von Menschen. Die hängen an seinen Lippen und wollen nur eines von ihm wissen – mit welchen Mitteln und Methoden sie schnellstmöglich reich werden können. Der Riemen ist schon wieder (oder besser: unverändert) auf der Orgel …
Leonardo DiCaprio, der selbst in Filmen wie diesem immer auch noch sein Babyface hervorzaubern kann, verkörpert Jason Belfort mit glaubwürdiger Authentizität. Und ein Wiedersehen gibt es mit Rob Reiner (in der Rolle als Belforts Vater), dessen Regie uns 1989 die herrliche Liebeskomödie „Harry und Sally“ beschert hatte – mit jener unvergesslichen Szene im Restaurant, als Sally (Meg Ryan) … Apropos: Nicht nur im Vergleich dazu ist „The Wolf of Wall Street“ zu allem anderen auch noch pornographisch.

„The Wolf of Wall Street“ Regie: Martin Scorsese; derzeit in den Kinos.