von Erik Baron
„Der Wärter in einem Leuchtturm, der nicht mehr in Betrieb ist; er notiert sich die durchfahrenden Schiffe, da er nicht weiß, was er sonst tun soll“ – so muss man ihn sich vorstellen: Max Frisch im Mai 1973 in seiner Berliner Wohnung, die er drei Monate zuvor bezogen hat. Tag für Tag sitzt er an seinem Schreibtisch, notiert, ohne rechten Plan, vor sich hin, „statt eine große Arbeit anzufangen oder darauf zu warten“, wie seine Frau Marianne moniert. Sorgfältig jedoch heftet er seine aus dem Nichts und für das Nichts (?) entstandenen Blätter in einen Ringordner, dem er den Namen „Berliner Journal“ gibt. Von 1973 bis 1980 entsteht so eine Sammlung von tagebuchähnlichen Notaten, denen er, anders als bei seinen beiden berühmten literarischen Tagebüchern, eine Sperrfrist von 20 Jahren nach seinem Tod verabreicht hatte. Im Jahr 2011 nun war diese Sperrfrist abgelaufen, und die Nachwelt wartete begierig, was für Frisch so eminent wichtig gewesen war, dass er es für Jahre wegschließen ließ. Nun also liegt es in Auszügen vor, und die Herausgeber stellen es in eine Reihe mit seinen großen Tagebuch-Vorgängern, einheitlich durchkomponiert und also eine eigenständige literarische Form. Erinnern wir uns der dem „Tagebuch 1946 – 1949“ vorangestellten Bitte Frischs an seine Leser, das Tagebuch „nicht nach Laune und Zufall hin und her blätternd“ zu lesen, sondern „die zusammensetzende Folge“ zu achten. So sei hier den Herausgebern ausdrücklich widersprochen, die Frischs „Berliner Journal“ in diese Traditionslinie gerückt sehen wollen. Allein dass Frisch knapp zehn Jahre später „Entwürfe zu einem dritten Tagebuch“ (Hervorhebung E.B.) begonnen hatte, die 2011 postum erschienen sind, spricht gegen diese literarische Einordnung. Und nicht umsonst hat Frisch seine Berliner Sammlung „Journal“ und nicht „Tagebuch“ genannt. Wenn die Herausgeber sich nun aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen gezwungen sahen, dieses Journal mit Lücken zu veröffentlichen, stellt sich schon die Frage, ob das dem Rhythmus einer durchkomponierten Collage nicht schaden würde. Doch diese Befürchtung bestätigt sich nicht. Offensichtlich weil es keine durchkomponierte Collage ist! Auch wenn sich Frisch in einem Interview im Jahr 1981 in diese Richtung äußert: „Es ist eben kein Sudelheft, sondern ein durchgeschriebenes Buch, auch die privaten Sachen sind ins Reine geschrieben, ausformuliert, nicht einfach nur Notizen.“ Die Qualität seiner literarischen Tagebücher jedoch erreicht sein „Berliner Journal“ nicht. Gleichwohl hatte Frisch immer an eine Veröffentlichung gedacht – wie jene Notiz aus dem Februar 1973 belegt: „Seit ich die Notizen, die anfallen, in ein Ringheft einlege, merke ich schon meine Scham; ein Zeichen, daß ich beim Schreiben schon an den öffentlichen Leser denke, gleichviel wann es dazu kommen könnte. Und mit der Scham gleichzeitig auch die Rücksicht auf andere…“ – eine exemplarische Reflexion auf das Schreiben von Tagebüchern schlechthin. Man fühlt sich unweigerlich an Christa Wolf erinnert, die dieses Gefühl beim Tagebuch-Schreiben so treffend „unter das Heisenbergsche Gesetz von der Unschärferelation“ stellte: der von ihr zu beschreibende Tag „wird deformiert durch meinen unausgesetzten Blick auf ihn. Er verläuft nicht, wie er sonst verlaufen würde. Er gewinnt und verliert durch Bewußtheit.“ („Ein Tag im Jahr“) Aus eben diesem Grunde hatte Max Frisch sein frühes literarisches Verdikt aufgestellt: „Du sollst dir kein Bildnis machen“, weil das Abbild immer zur Verfälschung tendiert – das Grundproblem jeglicher künstlerischer Versuche, Realität authentisch abbilden zu wollen. Also: wenn Max Frisch in seinem „Berliner Journal“ bewusst oder unbewusst Rücksicht auf Zeitgenossen nimmt, ist dies immer auch Ergebnis seines eigenen Verdiktes.
Dennoch ist das nunmehr verlegte „Berliner Journal“ ein spannendes Zeitzeugnis, ein authentisches Abbild jener Berliner Jahre. Frisch erweist sich als exzellenter Beobachter der menschlichen Seele und zaubert punktgenaue Charakterstudien jener Menschen aufs Papier, die ihm in Berlin über den Weg gelaufen sind: von Uwe Johnson über Günter Grass, Jurek Becker, Günter Kunert, Wolf Biermann bis hin zu Christa Wolf. Frisch zeigt sich glaubhaft interessiert an den gesellschaftlichen Entwicklungen in der DDR (er scheint sich öfter in Ost- als in Westberlin aufgehalten zu haben; zumindest schreibt er mehr über den DDR-Sozialismus) und ist als Außenstehender geradezu fasziniert von der absurden Situation der geteilten Stadt. Als Uwe Johnson mit ihm die Enklave Steinstücken besucht, notiert er aufmerksam seine Beobachtungen rund um die Mauer und fasst den Entschluss, „Zürich als geteilte Stadt zu beschreiben“, was er keine zwei Monate literarisch fiktiv umgesetzt hat. Für Frisch, so scheint es, sind die Monate in Berlin eine inspirierende Auszeit. Er schreibt momentan an keinem größeren Werk, versucht sich immer wieder an einem Text namens REGEN oder KLIMA, dem späteren „Der Mensch erscheint im Holozän“, verwirft diese Versuche aber stets. Die meiste Zeit sitzt er tatsächlich wie der eingangs zitierte Leuchtturmwärter an seinem Schreibtisch und notiert vor sich hin, schreibt in den Tag hinein. „Ohne Vorsatz leben“ – lautet seine Berliner Lebensmaxime, wissend, dass er sich dies aufgrund seiner Privilegien leisten kann. Und so schleichen sich natürlich immer wieder Selbstreflexionen in seine Notizen, das zunehmende Alter betreffend, das ihm offenbar mehr und mehr einen Strich durch das Schreiben macht. Früher, so stellt er fest, hätte seine Sprache mehr Körper, mehr Rhythmus, nunmehr scheint ihm die Sinnlichkeit verlorengegangen zu sein. Die Erfindungskraft lasse nach, dafür komme „ein geschichtliches Interesse an der eigenen Biographie und an der Biographie andrer“ hinzu – was auch in seinem „Berliner Journal“ spürbar wird. Eigentlich wäre es die Zeit für Memoiren, denn „ich habe mir mein Leben verschwiegen“ – sagt ausgerechnet Max Frisch!? Der doch in jedem seiner Werke als Reflexion seiner selbst vorzukommen scheint!? Koketterie mit sich selbst? Oder neuerliche Erkenntnis, dass das Bildnis von sich selbst letztlich doch nichts mit ihm zu tun hat, da es nur ein verfälschendes Abbild ist? Wie dem auch sei, an seinen Berliner Zeitgenossen übt er sich in seiner Beobachtungsgabe und liefert erstaunliche tiefenpsychologische Ergebnisse ab. So erleben wir einen launischen Uwe Johnson, der mit moralischem Rigorismus jeden Besucher aus der DDR (zum Beispiel Christa Wolf oder Jurek Becker) mit einer ins Arrogante tendierenden Art herunterputzt, als hafteten sie persönlich für die DDR und ihre Verfehlungen. Ein unangenehmer Patron, der offenbar bei denen, die nicht wie er die DDR zu verlassen gedenken, partout ein schlechtes Gewissen erzeugen will. Christa Wolf hingegen reagiert auf solche Angriffe überraschend unbeleidigt. Frisch bescheinigt ihr wiederum eine kritisch-offene Loyalität ihrem Staat gegenüber, den sie auf dem richtigen Weg sehe. Überhaupt seien diejenigen DDR-Autoren, die sich kritisch mit dem System auseinandersetzen (einschließlich Wolf Biermann) die einzig wahren Kommunisten. All die funktionierenden Duckmäuser aus dem Schriftstellerverband, mit denen er im Zusammenhang mit anstehenden DDR-Veröffentlichungen und Lesungen zu tun bekommen hat, blockieren eher eine sozialistische Entwicklung, die diesen Namen verdient. Sein Resümee 1974 über die Länder, „die sich sozialistisch nennen“, fällt dann auch entsprechen ernüchternd aus: „Bürokratismus mit sozialistischer Phraseologie, Staatskapitalismus ohne die mindeste Mitbestimmung von der Basis her.“ Sag ich’s nicht? Frisch verfügte über eine exzellente Beobachtungsgabe. So schreibt er und schreibt, in seinem Leuchtturm sitzend, die vorbeiziehenden Schiffe beobachtend, ohne jeglichen Vorsatz. Und das Ergebnis dessen, auch wenn es 20 Jahre unter Verschluss gehalten wurde, hat keinerlei Patina angesetzt. Als Zeitzeugnis reiht sich das „Berliner Journal“ nahtlos in das Gesamtwerk von Max Frisch ein. Man muss es ja nicht unbedingt in eine Reihe mit seinen literarischen Tagebüchern stellen. Das abrupte Ende des Journals im März 1974 mit den Vorbereitungen für den Flug nach New York ist die direkte Brücke zu seiner autobiographischen Erzählung „Montauk“.
Schlagwörter: Berliner Journal, Erik Baron, Max Frisch