von Edgar Benkwitz
Ein Gespenst geht um in Indien. Es ist der aam admi, der einfache Mann. Er hat sich vor einem Jahr in einer politischen Partei konstituiert, der Aam Admi Party (AAP) und lehrt den etablierten Parteien das Fürchten. Kaum auf die Welt gekommen, streckt er seine Muskeln und probt den Aufstand gegen Unrecht und Rückständigkeit. Sein Experimentierfeld ist der Großraum Delhi mit seinen 18 Millionen Einwohnern, wo er seit Dezember die Regierung und den Chief Minister (Ministerpräsident) stellt. Nun hat er sich Größeres vorgenommen und will bei den kommenden Parlamentswahlen in das indische Unterhaus einziehen.
Arvind Kejriwal, 45 Jahre, ein ehemaliger Steuerbeamter, ist der Gründer dieser Partei. Jahrelang war er Mitstreiter des Antikorruptionsaktivisten Anna Hazare, der sich mit wochenlangem Fasten und Sitzstreiks – den Methoden eines Mahatma Gandhi – großes Ansehen erworben hatte. Doch Kejriwal wollte mehr als nur den gewaltlosen Widerstand. Die Mobilisierung der Massen sollte schnell zu konkreten Ergebnissen führen. Mit einer Reihe Gleichgesinnter verließ er die Bewegung von Hazare.
Bei den Wahlen im Unionsterritorium Delhi erhielt die Aam Admi Partei auf Anhieb 27 Mandate (von 70 möglichen), ihre oft unerfahrenen Kandidaten hoben Politgrößen anderer Parteien aus dem Sattel. Nur die hindunationalistische Bharatiya Janata Party (BJP), mit ihrem Wahlkämpfer Narendra Modi als Zugpferd, gewann einige Sitze mehr. Sie lehnte aber die ihr zustehende Bildung einer neuen Regierung ab, so dass die AAP mit indirekter Unterstützung der Kongresspartei zum Zuge kam.
Der Wahlerfolg der AAP schlug in Indien ein wie die sprichwörtliche Bombe. Noch vor einem Jahr belächelt und verspottet, ist sie nun eine politische Größe. Prominente Persönlichkeiten wie TV-Moderatoren, Schauspieler und Unternehmer treten ihr bei oder unterstützen sie. Zweigstellen entstehen besonders in den Großstädten. Die Zentrale in Delhi wird bedrängt, für die bevorstehenden Unterhauswahlen in allen Wahlkreisen Kandidaten aufzustellen. Die Partei wächst im Moment rasch, niemand kann genau sagen, wie stark sie wirklich ist. Die Gefahr besteht, dass Trittbrettfahrer das Ansehen der Partei nutzen und damit ihr ursprüngliches Konzept verwässern. Die AAP will nach ihren Worten den einfachen Menschen dienen. Dazu gehört der schonungslose Kampf gegen Korruption und das Eintreten für die strikte Wahrung von Recht und Ordnung. Aktueller Schwerpunkt ist dabei der Schutz und die Sicherheit der Frauen.
Die AAP-Regierung ist erst seit einigen Wochen im Amt, und sie erregt weiter Aufsehen. Der neue Ministerpräsident lehnte den Einzug in den ihm zustehenden Regierungsbungalow ab und bezog eine einfache Wohnung. Seine Vereidigung fand nicht im Gouverneurspalast, sondern auf einer Massenkundgebung mit seinen Anhängern statt. Er selbst reiste dazu mit der U-Bahn an. Seinen Amtssitz verlegte Kejriwal für einen Tag auf die Straße, um mit den Menschen zu sprechen, ihre Probleme und Beschwerden anzuhören. Der Andrang war so groß, dass die Organisation der Veranstaltung zusammenbrach.
Kejriwal will die Massen mobilisieren, mit seinen ungewöhnlichen Methoden überschreitet er schnell gewohnte Grenzen. Seine Gegner bezeichnen das als Anarchie und Gesetzeslosigkeit. Ein Beispiel dafür ist die von ihm angeordnete Entlassung von fünf Polizisten, die in ihrem Bezirk angeblich Rauschgifthandel, Prostitution und Vergewaltigung tolerierten. Allerdings wurden die Polizisten nicht wirklich entlassen, da der Ministerpräsident damit seine Kompetenzen überschritt. Der Angelegenheit musste sich sogar der Innenminister Indiens annehmen, einer der einflussreichsten Führer der Kongresspartei, von Kejriwal als korrupt und ineffizient bezeichnet. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, führte Kejriwal vor dem Ministerium einen zweitägigen Sitzstreik durch, seine Amtsgeschäfte und die Kabinettssitzungen fanden in einem Dienstwagen statt, nachts schlief er auf der Straße. Er errang einen Teilerfolg, zwei der beschuldigten Polizisten wurden vom Dienst suspendiert. Kejriwal selbst musste sich anschließend wegen einer akuten Bronchitis und Fieber ins Krankenhaus begeben.
Geschieht diese Art von Politik nun aus Überzeugung oder ist sie reiner Populismus? Dient sie den Massen oder ist sie purer Selbstzweck? Kejriwal setzt auf alle Fälle seine ungewöhnliche, teilweise provokatorische Politik fort, die zum Wahlerfolg in Delhi geführt hat. Er sensibilisiert so große Teile der Bevölkerung, insbesondere die städtische Mittelschicht und die Jugend. Nicht nur ganz Indien schaut auf ihn, seine Aktionen rufen auch international beträchtliche Aufmerksamkeit hervor. Die Times of India schrieb in ihrem Bericht vom Weltwirtschaftsforum in Davos, dass die indischen Teilnehmer mit Anfragen nach dem neuen Phänomen in der indischen Politik förmlich zugedeckt wurden. Die Geschäftswelt interessiert sich für mögliche Auswirkungen auf das innenpolitische Kräfteverhältnis in Indien, nicht zuletzt angesichts der bevorstehenden Parlamentswahlen.
Doch das Vorgehen von Arvind Kejriwal trifft nicht überall auf Sympathie. Der politische Gegner, vor allem die BJP befürchtet, dass ihr die AAP bei den Unterhauswahlen einen Teil der als sicher geglaubten Wählerschaft wegnimmt. So setzt sie alle Hebel in Bewegung, um Kejriwal und seiner AAP zu schaden. Nicht nur wird der Partei unterstellt, mit der korrupten Kongresspartei zu paktieren, auch angebliche Geldflüsse aus dem Ausland werden ins Spiel gebracht. Die Kongresspartei ihrerseits drohte, ihre indirekte Unterstützung der AAP-Regierung im Delhier Landtag zurückzuziehen, was deren Scheitern zur Folge hätte. Doch käme das Kejriwal nicht recht? Ihm wäre die Sympathie vieler sicher. Und die braucht er, um größere Ziele anzugehen.
Arvind Kejriwal hält sich, was seine politische Zukunft betrifft, bedeckt. Doch sein politischer Ehrgeiz, der zuweilen in missionarischen Eifer mündet, lässt nur den einen Schluss zu, dass er sich politisch weiter aufbauen will. Die im April/Mai stattfindenden Parlamentswahlen wären dafür die nächste und zugleich ganz große Bühne. Im Moment werden für diese entscheidende Wahl die Karten neu gemischt. Die AAP könnte hierbei zu einer Art Joker werden.
Bisher geht das politische Indien davon aus, dass bei diesen Wahlen die BJP stärkste Partei wird und mit gleichgesinnten Koalitionspartnern die neue Regierung bildet. Das könnte aber die AAP vereiteln, wenn sie 30 bis 40 Parlamentssitzen erhält, was seriöse Beobachter für möglich halten. Für die Regierungsbildung käme dann auch eine Parteienallianz in Frage, die sich aus starken Regionalparteien und den linken Parteien zusammensetzt. In Indien gab es das schon einmal in ähnlicher Form unter dem Namen Dritte Front, an der weder BJP noch Kongresspartei beteiligt waren. Doch dieses Mal könnte die Aam Admi Partei ihr stärkstes Glied werden und würde so den neuen Premierminister stellen. Und das wäre … Arvind Kejriwal! Natürlich ist das hypothetisch, aber nicht abwegig. In den indischen Medien wird diese Variante schon fleißig durchgespielt, zumal es bereits Koordinierungsgespräche zwischen den möglichen Allianzpartnern gibt.
Doch egal was geschieht, Arvind Kejriwal und seine Aam Admi Partei haben sich schon jetzt tief in die Vorstellungswelt von Millionen Menschen eingegraben. Mit der neuen politischen Kraft werden viele Hoffnungen verbunden, denn sie vermittelt mehr als eine Idee davon, was möglich und eventuell auch machbar ist. Allein das bedeutet für das immer noch in Rückständigkeit und hemmenden Traditionen verhaftete Indien viel.
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