17. Jahrgang | Nummer 4 | 17. Februar 2014

Begräbnis in Carwitz – ein Bericht

von Andreas Dahms

Es ist 11.00 Uhr an diesem 11. Januar 2014. Ein Sonnabend, mit Wolken verhangen, wie man so sagt. Unmerklicher Nieselregen begleitet mich auf dem Weg zur Kirche am Dorfanger von Carwitz. Heute wird hier Dr. Ulrich Ditzen beerdigt, ältester Sohn des Hans Fallada.
Gelebt hat Fallada hier von 1933 bis 1944. Dies Dorf war seine gesuchte Idylle, sein Refugium, gelegen auf einer Landzunge, umgeben von vier glasklaren, türkisblau schimmernden Seen am Rand der Uckermark. Hier war er bemüht zu leben, zu überleben. Materiell und auch physisch. Er hatte dabei auch Verantwortung für Frau und drei Kinder. Er wurde dem gerecht und erlebte in Carwitz seine künstlerisch ertragreichste Lebensphase. Hier entstanden nicht zuletzt „Wolf unter Wölfen“ und der „Eiserne Gustav“.
Ulrich Ditzen war drei Jahre alt, als seine Eltern Hans und Anna hier herzogen; er sagte darüber, seine Kindheit war sehr glücklich, sie wäre von den äußeren Entwicklungen unberührt geblieben.
Sein Vater: stark und unglaublich diszipliniert, wenn er schrieb.
In Schaffenspausen versank er in ein anderes „Ich“: Alkohol, 100 Zigaretten am Tag, auch Rauschgift und Beziehungen zu den wechselnden Hausmädchen. Die Arbeit schützte ihn vor sich und seiner Art zu leben Er starb mit 54 Jahren in der Charité zu Berlin im Jahr 1947. Ein Jahr zuvor hatte er seinen „Auftragsroman“ beendet: „Jeder stirbt für sich allein“. Auftrag und Förderung dabei vom späteren ersten Kulturminister der DDR, Johannes R. Becher.
Das ist Vergangenes.
Und nun das Begräbnis.
Vier Männer aus dem Dorf als Glöckner stehen dazu auf der Kirchenwiese unter freiem Himmel. Die Männer haben Ohrenschützer auf, denn die Glocken sind ohrenbetäubend laut, als sollten sie Tote erwecken.
Im letzten Moment gehe ich durch die kleine Kirchentür in den Innenraum, drücke mich an der Seitenwand entlang in die hinterste Ecke und entdecke noch einen zusammengeklappten, recht kleinen Holzstuhl, stelle ihn auf. Und nun sitze ich da – über mir die Empore, aber es gibt keine Orgel dort. Musiker, drei Geigen, eine Klarinette und ein Cello sind da.
In der Kirche ist es kälter als an der frischen Luft, ich sehe meinen eigenen Atem und denke, der Tod hat mit Kälte zu tun. In welcher Reihe mag er hier bloß sitzen und möglicherweise zuschauen, wie das Folgende vor sich geht?
Die Pastorin, eine Frau Ende 20, ist erst ein Jahr im Ort. Natürlich spricht sie von Tod und Abschied, von Trauer und Schmerz. Aber dann kommt sie zur Liebe: „[…] ich hätte die Liebe nicht, so wäre ich nicht. Die Liebe eifert nicht, bläht sich nicht auf, sucht nicht das ihre, sie freut sich an der Wahrheit, sie duldet alles, sie hört niemals auf, sie überlebt Wissen […] “Ich lausche diesen Worten und auf einmal wird die ganz junge Pastorin zu einer Frau, die etwas zu sagen hat – Überlegungen zu dem Gedanken, dass „ohne Liebe alles nichts ist“.
Ich sitze auf meinem Klappstuhl vermeintlich sicher. Just in dem Moment knackt es, ich merke, er bricht zusammen. Instinktiv nehme ich mit den Beinen die Hockstellung ein, die Muskeln arbeiten, so sinke ich nicht zum Kirchenboden hin, halte mich verkrampft; nur das Zusammenfallen des Stuhles macht ein Geräusch. Was aber nicht groß stört. Das Gebälk hier stöhnt sowieso.
Der Tote, Ulrich Ditzen, hatte eine große Familie, und sie waren wohl alle da – bis auf den Sohn, der vor dem Vater starb. Ditzens Buch „Mein Vater und sein Sohn“ bestätigt: Er hatte Freude und Last, der Sohn von Hans Fallada zu sein, angenommen. Er zog für seine letzten Lebensjahren von Wuppertal, wo er Rechtanwalt war, nach Berlin, um dem Kindheitsort nahe sein.
Die Trauernden, auch Neugierige, versammeln sich dann vor der Kirche. Ditzen wollte nicht eingeäschert werden; so wird der Sarg von vier Männern in Anzug nebst Zylinder aus der Kirche zu einem Kleinbus getragen, wo man die Ladeklappe offen lässt, so dass man den Sarg sieht. Am „Schmalen Luzin“ zur rechten Seite, hält das Fahrzeug an, auf der linken Seite ist der Friedhof.
Irgendwann ist es dann vorbei mit dem öffentlichen Abschied. Ich gehe zum Grab von Hans Fallada, wieder mehr Ortsmitte, dessen Stätte Anfang der 80-ziger als Parkanlage gestaltet wurde und deshalb auch kein „aktiver“ Friedhof mehr ist. Die DDR ehrte ihn, tat sich offenbar aber auch schwer mit Fallada; sein Lebensstil passte so gar nicht. Ignoriert hat sie ihn jedenfalls nicht.
Günter Caspar hat sich verdient gemacht, als Herausgeber im „Aufbau Verlag“ zehn Bände Fallada editiert. Und Ruth Werner – auch, aber nicht nur – eine Schriftstellerin, hat sich sehr um Falladas Erbe gekümmert. Sie besaß ein kleines Wochenendhaus am Carwitzer See, war so unmittelbare Nachbarin von Falladas Anwesen. Sie kannten sich nicht, aber Hans Fallada und Ruth Werner waren 40 Jahre Zeitgenossen. (Sie wurde 1907 geboren und starb im Jahr 2000.) Ruth Werner hat die Gedenkstätte für Fallada durchgesetzt.
Ich stehe vor deren Bronzerelief, will jetzt nicht wissen, ob dies künstlerisch wertvoll ist oder nicht; ich schaue auf den dort dargestellten Menschenzug des Elends – Elend des Menschen? –, der versucht, vorwärts zu kommen. Und lese, was da eingemeißelt ist, Text aus Falladas „Kleiner Mann, was nun“: „Und plötzlich ist die Kälte weg, und eine unendlich sanfte, grüne Woge hebt sie auf und ihn mit ihr. Sie gleiten empor, die Sterne funkeln ganz nahe. Aber du kannst mich doch ansehen! Immer und immer! Du bist doch bei mir, wir sind doch beisammen […].“
Solche Liebe denke ich, macht, zumindest für Momente, zeitlos und lässt so leichter „über“leben. Und ich wünschte mir: Die Zeit, die ich habe, zu nutzen und dass diese meine Zeit „erfüllt“ sein möge. Ja, wenn ich schon da bin, dann will ich auch leben.