von Ulrike Steglich
Eine Geschichte, auch für den Stadtsoziologen und Architekturtheoretiker Werner Sewing (1951–2011)
Der ältere Mann ist etwas beleibter und rotgesichtig. Kernig wirkt er, ein bisschen vierschrötig. Er eilt, schafft es gerade noch in die S-Bahn von Mainz nach Frankfurt am Main und lässt sich schwer atmend auf die benachbarte Sitzbank fallen. Dann greift er nach dem Handy und beginnt seine Konversation.
Mobiltelefone eröffnen ja bekanntlich ganz neue Einblicke in die Lebenswelten völlig unbekannter Mitreisender, auf die man allerdings in den meisten Fällen gern verzichtet hätte. Bedeutsame Mitteilungen wie: „Ja, bin gerade Bahnhof Samariterstraße, (oder Castrop-Rauxel, oder Ingelheim), bin gleich da.“ Debatten wie „Soll ich jetzt die festkochenden oder die anderen Kartoffeln kaufen?“ Oder schon etwas aufregendere Monologe wie das drohende: „Und was machst du da mit die blöde Schlampe rum? Ey, isch habs genau gesehen, ich schwör … Du Arsch!“ Leider hört man ja den (unsichtbaren) Gesprächspartner nicht, das macht die Angelegenheit – glaubt man den Neuro-Wissenschaftlern und Psychologen – so ungemein nervig und ablenkend. Weil das eigene Hirn ständig im Geist den unhörbaren Gesprächspart zu ergänzen sucht, kann man sich nicht mehr auf die Zeitung oder sonstige Bahnlektüre konzentrieren.
Der Architekturtheoretiker und Stadtsoziologe Werner Sewing (der 2011 mit nur 60 Jahren viel zu früh starb) meinte einmal zum vielbeschworenen Thema Urbanität sinngemäß und in seinem trockenen Stil: Viele nähmen ja an, es sei aus soziologischer Perspektive ungemein interessant, auf dem Balkon zu sitzen und private Straßen- oder Kneipengespräche zu belauschen. In Wahrheit sei das meist jedoch fürchterlich banal: „Fritz trifft Erna und Erna trifft Fritz.“
Dafür war der voluminöse Bass, der plötzlich durch den Waggon dröhnte, umso bemerkenswerter. Nicht nur aufgrund der beachtlichen Lautstärke, wegen der schlagartig alle anderen Mitreisenden lieber sofort auf ihre eigene Konversation verzichteten, sondern auch wegen des sehr eigenwilligen Idioms, dessen sich der Mann bediente. Es klang bodenständig. Fest verwurzelt irgendwo in der Provinz zwischen Mainz und Frankfurt, etwas zwischen Meenzerisch und Hessisch. Arbeiterlich, vielleicht ein Opelianer. Ohne falsche Verlegenheit bollerte der Mann seine Mitteilungen in das Handy. „Jo, isch bin jeds in de Bohn, in Meenz …“
Alles lauschte ergriffen und schwieg. Alle versuchten, die rätselhaften Mitteilungen zu dechiffrieren. Unsere Söhne – halbwüchsige Berliner – schauten sich verständnislos an und versuchten herauszukriegen, ob es sich womöglich um eine Fremdsprache handelte. Dann, als sie einige Worte ungefähr erkannten, unterdrückten sie diskret ein Grinsen. Selbst ihr Vater, gebürtiger Mainzer, konnte nur partiell dem Gesprächsinhalt folgen. Auch ich, einigermaßen in unterschiedlichen Dialekten geübt, verstand bestenfalls die Hälfte des Gesagten. Es war auch eher eine sportliche als eine inhaltliche Herausforderung.
Nach etwa zehn Minuten Allgemeinunterhaltung war wohl von irgendeiner Frau aus der Nachbarschaft die Rede, so viel bekam ich noch mit. Es war offensichtlich wichtig, sie gegenüber seinem Gesprächspartner zu identifizieren, auch wenn der Mann ihren Namen nicht erinnerte. „Weescht, die, die da wohne dut inne Sackgass. Do übam Metzga. Ei, die Fraa, die wo da hinke dut.“
„Ei, die Fraa, die wo da hinke dut.“ Fasziniert lauschten wir dem Satzklang hinterher. Wundervoll rhythmisch wie Loriots Jodelkurs.
DAS ist mal Stoff für Linguisten, Soziologen, Sprachhistoriker. Was für ein Satzbau! Diese faszinierende Syntax müsste mal ein Fachmann analysieren, und das ist überhaupt nicht ironisch gemeint. Warum in dieser Gegend das Verb ständig mit dem Hilfsverb „tun“ kombiniert wird (man liest nicht einfach, sondern man tut lesen et cetera), und wie „die wo da“ verbunden wird, ist sprachhistorisch hochspannend. Aber erklären Sie diese Feinheiten der deutschen, grammatisch ohnehin sehr schwierigen Sprache mal einem Ausländer, der gerade Deutsch lernt …
Nun aber, nachdem der Mann einen dermaßen langen Anlauf unternommen hatte, um die Frau so zu schildern, dass der unbekannte Gesprächspartner auch ganz genau wusste, um wen es sich handelt – nun lauerten wir gespannt auf die eigentliche Geschichte, das große Finale, den Plot, die bedeutsame Mitteilung. Mord? Ehebruch? Skandale? Denn wenn sich jemand solche Mühe einer Personenbeschreibung macht, dann geht es ja um eine Geschichte.
„Weescht, die, die da wohne dut inne Sackgass. Do übam Metzga. Ei, die Fraa, die wo da hinke dut.“ Kurze Pause, Gesprächspartner bestätigt offenbar, dass er die Dame kennt. – „Jo. – Unn die isch ooch Meenz 05-Fan.“
Schlagartig sanken wir etwas erschöpft an unsere Sitzlehnen zurück. Wir übersetzten den Jungs noch kurz den Sachverhalt, dass nämlich eine hinkende Frau, die in irgendeiner Sackgasse direkt über dem Fleischerladen wohnt, auch Fan von Mainz 05 ist. Dann dachten wir an Werner Sewing. Die Szene hätte ihm sicher auch viel Spaß gemacht – Fritz und Erna hin oder her.
Der Mann in der Bahn war immerhin wesentlich spannender als die Zeitung vom 28. Dezember.
Jedenfalls unterhaltsamer.
Schlagwörter: Handy, Stadtsoziologie, Ulrike Steglich, Werner Sewing