16. Jahrgang | Nummer 25 | 9. Dezember 2013

Mindestlohn: Arme Unternehmer!

von Heerke Hummel

Nun soll er also laut Koalitionsvertragsentwurf kommen, der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde; wenn auch sehr schleppend ab dem Jahr 2015 im Verlaufe einer zweijährigen Übergangsphase bis 2017. Was alles in dieser Zeit in der Wirtschaft wirklich geschehen wird, weiß heute niemand. Gutgläubige hoffen, Kritiker – besonders aus dem Lager der Unternehmer – sorgen sich und warnen vor dem Verlust von Arbeitsplätzen. Wenn es dazu eines Tages und mit großer Wahrscheinlichkeit tatsächlich kommt, wird es dem Kapital nicht schwer fallen, den Mindestlohn dafür verantwortlich zu machen. In diesem Fall möge man sich dann daran erinnern, dass sich laut neuester Mitteilung der Bundesagentur für Arbeit (BA) die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland im November 2013 gegenüber dem Vormonat um 5.000 und gegenüber dem Vorjahr sogar um 55.000 erhöht hat – auch ohne Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns und trotz konjunkturellen Aufschwungs seit geraumer Zeit.
Gewiss, auch die niedrigsten Löhne sind ein Kostenfaktor, der im Überlebenskampf auf dem Markt noch negativ zu Buche schlägt. Aber sie sind nur ein Faktor unter vielen und können durch positive Effekte bei anderen günstig beeinflusst werden. Zum Beispiel lassen sich Kostensteigerungen bei den untersten Löhnen durch entsprechend langsameres Wachstum der oberen Einkommen, durch Reduzierung der Gewinnmargen und Dividendenausschüttungen gut und gerne ausgleichen – von allgemeinen Produktivitätssteigerungen und Kostensenkungen ganz abgesehen. Und darüber hinaus: Sind die staatlichen Ausgleichszahlungen der Arbeitsagenturen beziehungsweise Sozialämter für Löhne unter dem Existenzminimum etwa kein Kostenfaktor für die Gesellschaft? Sie führten schon seit Jahren zu einer Sozialisierung der Kosten bei Privatisierung der Gewinne. Dieses Phänomen war durchaus nicht nur an den „Rettungsschirmen“ für die Bankensanierung im Zuge der Finanzkrise festzumachen! Es war seit Jahrzehnten die Folge einer deutschen Wirtschaftspolitik, die sich ihr Handeln mehr und mehr von der Interessenlobby des Kapitals diktieren ließ, aller gesamtgesellschaftlichen und auch ökonomischen Vernunft zum Trotz und egal in welcher parteipolitischen Koalition. Die ökonomische Notwendigkeit gebietet einen politisch-ökonomischen Paradigmenwechsel. Ein halbes Jahrzehnt Finanz- und Staatsschuldenkrise ohne sichtbares Ende scheint nun dem politischen und auch dem ökonomischen Establishment dieser Gesellschaft die „Erkenntnis“ förmlich aufgezwungen zu haben, dass es ein „weiter so“ nicht geben kann. Von wirklicher Einsicht in ökonomische Zusammenhänge kann keine Rede sein angesichts des blinden Eifers, mit dem private Interessen bis zur Absurdität verfolgt werden.
Deutschland ist Exportweltmeister – also auf dem Weltmarkt außerordentlich konkurrenzfähig dank des technischen und qualitativen Höchststandes seiner Erzeugnisse, aber auch dank seiner günstigen Produktionskosten, die unter anderem dem niedrigen Lohnniveau zu verdanken sind. Und in einer solch starken ökonomischen Situation sollte man sich keinen Mindestlohn leisten können, der existenzsichernd ist?
Wer Handelsbilanzüberschüsse realisiert, konsumiert weniger als er erzeugt, gibt mehr als er nimmt, liefert auf Kredit, wird zum Gläubiger seiner Schuldner. Wie lange kann das funktionieren? Bis es niemanden mehr gibt, der bei ihm kaufen kann. Deutschland sägt an dem Baum, an dem sein Wohlstand wächst. Bedauernswerte Unternehmer, die das nicht verstehen wollen.
Bedauernswert auch, wer aus Habgier den sozialen Frieden aufs Spiel setzt. In Portugal treibt eine neue Sparorgie die Staatsdiener und die Rentner zu Demonstrationen auf die Straße, weil der verarmte Staat sich auf ihre Kosten sanieren zu müssen glaubt. Und die Besserverdienenden gehen mit ihrem Geld, das sie dank Steuerungerechtigkeit im Überfluss haben, an die Börse und ins Ausland. Für Deutschland konstatiert der jüngste Armutsbericht der Regierung eine wachsende Verelendung. Eine Zunahme der gesellschaftlichen Spannungen hier und in aller Welt ist absehbar und vielerorts seit geraumer Zeit sichtbar.
Bemerkenswert in dieser von Unruhen in allen Teilen der Welt gekennzeichneten Situation ist die jüngste Kritik des Papstes am derzeitigen Wirtschaftssystem: Das Nein des Oberhauptes von mehr als einer Milliarde Katholiken in der ganzen Welt zur Vergötterung des Geldes und sein Nein zur sozialen Ungerechtigkeit. Seine Aufforderung zur Reform des Dogmatismus mag nicht nur im religiösen Sinne verstanden werden. Auch das tonangebende, verkrustete ökonomische Denken gilt es zu reformieren und es den Veränderungen in der Welt zu öffnen, die sich seit Jahrzehnten vollzogen haben. Könnte die Botschaft von Papst Franziskus vielleicht doch zum Aufbruch in eine neue Welt beitragen? Auch für den Unternehmerflügel von CDU und CSU gäbe sie Grund zur Hoffnung, wäre er denn bereit, sich mit dem Herzen und mit dem Verstand den Bedingungen des 21. Jahrhunderts zu öffnen. Denn der erforderliche Wandel läge auch in ihrem eigenen Interesse.