16. Jahrgang | Nummer 25 | 9. Dezember 2013

Faltung und Entfaltung

von Klaus Hammer

Wir kennen wohl alle „Himmel und Hölle“, jenes Faltspiel der Kinder: Kopf oder Zahl, Leben oder Tod, sie liebt mich – sie liebt mich nicht, entweder – oder, schwarz – weiß, positiv – negativ. Kein Ausweichen, kontrastreich und kompromisslos ist das Kinderspiel, die Gegensätze fixierend und doch leicht und schnell wieder vergessen. Auf den Spieler kommt es an, wie er sich ins Spiel bringt, aufs Spiel setzt, ob er es leicht nimmt oder schwer. Himmel und Hölle, beides als eins im Leben und in der Kunst und in der Kunst des Lebens, dessen menschlichste Facette – nach Schiller – das Spiel ist. Ob Farbe, Linie, Papier – im offenen, selbstverlorenen und sich selbst zurück gewinnenden Spiel trifft sich auch die Künstlerin Edith Wittich in den von ihr gefalteten, entfalteten Briefumschlägen, deren geheimnisvolle „Innenansichten“ sie uns vorstellt.
Das Grundprinzip der von ihr ausgestellten Papierarbeiten ist die Faltung, durch die auch das kleine, „Himmel und Hölle“ genannte Papierobjekt gebildet wird. Die Faltung gibt einer Sache stets mehrere Ansichten, links und rechts, hoch und tief, oben und unten, hell und dunkel, transparent und opak, monochrom und polychrom, zudem gibt sie dem Leichten Stabilität. Außerdem sorgt sie für Differenzierung und Komplexität. Die Einfalt unchristlich fürchtend streben ja auch wir zur Entfaltung, fordern geradezu die Möglichkeit dazu, wenn wir Einschränkungen empfinden: nicht unaufgefaltet – eindimensional, sondern vielfältig wollen wir sein. Hier weiter gedacht ergibt sich so aus der Faltung auch ein Instrument künstlerischer Strukturierung und Verwandlung, ja fast eine Methode. Vielleicht ist es auch diese Vorstellung von Entfaltung, die bestimmte, diesem Prinzip folgende Gegenstände so faszinierend erscheinen lässt.
Aber wie ist es nun mit den Briefumschlägen, die private oder amtliche Mitteilungen enthalten, und die in der Regel, nachdem sie ihren Zweck erfüllt haben, weggeworfen, entsorgt werden? Dass Abfallprodukte zu Kunstwerken erhoben werden, indem man sie ihrer realen Funktion entledigt, kennen wir seit der künstlerischen Moderne. Edith Wittich öffnet die Innenseiten der Briefumschläge, sie zerlegt und entfaltet sie. Diese Innenseiten sind schlicht und karg oder mit Seidenpapier gefüttert, sie haben unterschiedliche Tönung und Färbung, unterschiedliche Formen, Raster, Muster, Signets, die sie zu geometrischen Bildsystemen zusammenfügt. Dabei kommen Aspekte der bewussten Zeichensetzung und des Zufalls zueinander. So entstehen Artefakte, die zum Ereignis werden.
Edith Wittich interessieren vor allem die Strukturen, die zu unterschiedlichen formalen Ausprägungen führen. Auch wenn die dritte Dimension in ihren Papierobjekten zu fehlen scheint,  bedeutet Faltung, Entfaltung räumliche Ausdehnung. Durch mehrfach umgebrochene oder auch abgetrennte Streifen scheinen die Gebilde zu schweben. Bewegliche Raumformen aus Quadraten, Dreiecken, Rechtecken, Rhomben und Trapezformen, mehrfach gebrochene Flächen entstehen, oder es kommt zu einer vertikalen Aufrichtung der Fläche, einer horizontalen Lagerung, einem Rotieren um die Achse, einem Balancieren der Teile, einer konstruierten Geraden oder einer vom Zufall bestimmten Kurve als ergänzende Elemente. Oder auch zu einer Aufklappung der ausgeschnittenen Form in doppelseitiger Entsprechung. Eigentlich haben wir es mit einer statuarischen Form zu tun, aber durch ihre sorgsame Parallel- oder Konträrfaltung erhält sie eine atmende Beweglichkeit. Ganze Werkgruppen entstehen – von der vorbedachten Faltung des Papierblattes, einer schrittweisen Umfaltung von Farbe und Form, zum entfaltenden Resultat. Die Faltungen zeigen offen, wie das Blatt entstand, welche Proportionen und Beziehungen die Figuren konstituieren. Sie weisen auf den Raum, auf eine fast plastische Verfügbarkeit. Hier kann die Kontinuität der künstlerischen Entwicklung der Künstlerin und der Reichtum ihrer Ausdrucksweisen gezeigt werden.
Die Magie einer solchen geometrische Ordnung kann besonders durch zwei Elemente näher charakterisiert werden: Einmal durch die Setzung von Zeichen, die entweder von gegenständlichen Bildungen abstrahiert oder frei – aus inneren Erfahrungen – erfunden oder gefunden werden (Paul Klee spricht hier vom „Bilder-Finden“). Zum anderen durch den traumhaft-schwebenden Charakter, den diese Bildzeichen im Bildraum einnehmen, in dem sie auftauchen, sich verhüllen, sich verändern. Formen assoziieren sich in den Arbeiten Edith Wittichs zu traumhaften Symbolen, die beim Betrachten den Wunsch auslösen, in nicht zu enträtselnde Geheimnisse einzudringen. Der Weg vom Abbildhaften zum Zeichenhaften ist bei ihr deutlich zu verfolgen, und in der Natur dieser Zeichen bleibt das Abbildhafte erkennbar, verdichtet zum psychisch-assoziativen Element.
Nichts Neues aus dem Briefumschlag? Keineswegs. Wie sagte der in Berlin geborene und bereits vor dem Zweiten Weltkrieg nach Frankreich emigrierte Zeichner und Maler Alfred Otto Schulze, der sich Wols nannte? „Ein winziges Blatt Papier kann die ganze Welt enthalten“.

Edith Wittich: Innenansichten – nichts Neues aus dem Briefumschlag, Ausstellung im Ministerium für Wirtschaft und Europaangelegenheiten des Landes Brandenburg, Potsdam, Heinrich-Mann-Allee 107, Haus 2, bis 17. Januar. www.edithwittich.de.