von Edgar Benkwitz
Indien hat gewählt. Zwar nur die Landesparlamente in fünf Bundesstaaten, diese Wahlen haben aber eine Signalwirkung für das ganze Land. Denn in knapp fünf Monaten wird ein neues Unterhaus gewählt. Und im Moment ist ganz Indien überzeugt, dass es dann einen Regierungswechsel geben wird. Und Volkes Stimme weiß bereits, dass es eine ABC-Regierung ist – anybody but Congress – alles, nur nicht der Kongress!
Doch zu den Fakten. In den vier zentralindischen Bundesstaaten Rajasthan, Madhya Pradesh, Chhattisgarh und Delhi (mit insgesamt 200 Millionen Einwohnern) gab es eine deutliche Verschiebung der Wählergunst zugunsten der hindunationalistischen Indischen Volkspartei (BJP). Sie wurde hier überall stärkste Partei, von insgesamt 589 zu vergebenden Landtagssitzen gewann sie 408 – das sind 70 Prozent! In Rajasthan war das eine Dreiviertel-, in Madhya Pradesh eine Zweidrittelmehrheit. Die Kongresspartei, die bisher in zwei Staaten regierte, wurde mit gerade einmal 20 Prozent der Sitze politisch degradiert. Besonders bitter ist die Niederlage im Großraum Delhi, wo die Partei 15 Jahre regierte, jetzt aber nur acht Sitze erhielt. Sie musste sogar dem Antikorruptionsaktivisten Arvind Kejriwal mit seiner Aam Admi Party den Vorrang lassen, die hier 27 Mandate errang. Nur im kleinen Mizoram (eine Mio Einwohner), an der Grenze zu Myanmar liegend, kam die Kongresspartei traditionell zum Erfolg.
Die BJP als stärkste Oppositionspartei Indiens zog im Wahlkampf natürlich Nutzen aus den Problemen und Missständen im Land, so der enorm gestiegenen Inflation und der weit verbreiteten Korruption. Mit Narendra Modi, seit zwölf Jahren Ministerpräsident des Staates Gujarat, verfügt sie aber auch über einen erfahrenen Wahlkämpfer und ausgefuchsten Demagogen. Er ließ sich noch schnell zum Kandidaten seiner Partei für das Amt des Premierministers für die Unterhauswahlen küren und drückte so den regionalen Wahlen einen nationalen Stempel auf. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend – als Jugendlicher war er ein chai wallah, ein Teeverkäufer auf der Straße – kann er glaubhaft seine Botschaft vermitteln. So attackierte er unermüdlich die Machtelite in Neu Delhi, worunter er die Kongresspartei und deren Kern, die Nehru-Gandhi-Familie, versteht. Ein Jawarhal Nehru und eine Indira Gandhi fanden ebensowenig Gnade wie die jetzige Präsidentin der Partei, Sonja Gandhi und deren Sohn Rahul, den er als letzten Sprössling der Dynastie nur „den Prinzen“ nannte. Mit der Demontage der Nehru-Gandhi-Dynastie zielte er direkt ins Herz der Kongresspartei. Getreu dieser Linie holte er auch den Nehru-Mitstreiter Sardar Patel (den „Bismarck Indiens“) aus dem Schatten Nehrus hervor. Seine Verdienste um Indien, die nach Modi trotz und gegen Nehru erreicht wurden, sollen nun mit einem gigantischen Denkmal gewürdigt werden. In Gujarat wird sich bald eine 182 Meter hohe Statue des ersten Innenministers Indiens erheben, damit doppelt so hoch wie die Freiheitsstatue in New York. Damit reißt sich der umtriebige Modi einen Teil der Geschichte der Kongresspartei unter den Nagel, ungeachtet dessen, dass Patel 1948 im Zusammenhang mit der Ermordung Mahatma Gandhis die hinduchauvinistische Organisation RSS verbot, dieselbe Organisation, in der Narendra Modi zwanzig Jahre später politisch aufwuchs.
Die Kongresspartei hatte diesem zielstrebigen Narendra Modi wenig entgegenzusetzen. Ihr Zugpferd Rahul Gandhi zeigte sich den Angriffen nicht gewachsen, ebenso erging es Sonja Gandhi. Sie reagierten ständig aus der Defensive, überzeugende Auftritte gab es nicht. Rahul Gandhi setzte zudem stark auf die Gefühlswelt, indem er die tragische Geschichte seiner Familie, (die Ermordung von Indira Gandhi und Rajiv Gandhi) schilderte. Doch die meist arme Zuhörerschaft hat andere Sorgen und interessierte sich dafür kaum. Seine Behauptung, wonach der pakistanische Geheimdienst muslimische Jugendliche für kürzliche gewaltsame Zusammenstöße zwischen Hindus und Muslimen genutzt hätte, brachte ihm nicht nur empörte Reaktionen einflussreicher Muslime Indiens, sondern auch eine Verwarnung der Wahlkommission ein. Doch das war nicht das einzige Eigentor, das sich die Partei leistete. Die Forderung nach einem Verbot von Meinungsumfragen (da sie zugunsten der BJP ausfielen) wie auch die Beschimpfungen des Rivalen Modi als Faschist durch einen Kabinettsminister zeigen, wie dünnhäutig die Führung der Kongresspartei geworden war. Einer der fähigsten Funktionäre dieser Partei, Finanzminister Chidambaram, rief zur Ruhe auf, er wagte auch als erster Kritik an der Wahlführung von Rahul Gandhi. Er würde ihm raten, sich stärker zentralen Themen zuzuwenden und im übrigen den politischen Gegner Modi nicht zu verteufeln, so Chidambaram.
Das zentrale Thema Indiens ist nach wie vor die Armut von Hunderten Millionen Menschen. Im Sommer dieses Jahres hatte die Kongressregierung ihre Sicht auf das nicht weichende Problem noch einmal bekräftigt, als bestehende Hilfsprogramme für die Armen beträchtlich erweitert wurden. Mittlerweile sind unvorstellbare Größenordnungen erreicht: 820 Millionen Inder haben einen Rechtsanspruch auf subventionierte Lebensmittel, die fast kostenlos abgegeben werden. Pro Jahr müssen dafür 62 Millionen Tonnen Getreide bereitgestellt werden. Das allein kostet etwa 20 Milliarden Dollar. Die Kongresspartei versuchte nun, politisches Kapital aus dem „weltweit größten Hilfsprogramm für die Armen“ zu ziehen. Zu ihrer Verwunderung – wie sie öffentlich zugab – musste Sonja Gandhi in einem der rückständigsten Gebiete Indiens erfahren, dass trotz dieser Programme die Landbevölkerung weiter massenweise abwandert. Dieses Unverständnis offenbart, dass die wirklichen Probleme des Landes nicht begriffen werden. Diese Hilfsprogramme, die zudem oft in Korruption und Misswirtschaft versickern, konservieren in Wirklichkeit die bestehende Armut, weisen keine Wege zu ihrer Überwindung. Das begreifen immer mehr Menschen, die eine Chance suchen, diesen Verhältnissen zu entfliehen.
Längst begriffen und zur politischen Waffe geschmiedet hat das Narendra Modi. Er betonte immer wieder, dass er sich nicht damit abfinden kann, dass Indien ein armes Land ist und es auch bleiben soll. Anstelle Wohltaten zu verteilen, sollte das Land umfassend entwickelt werden. Diese Sicht der Dinge klang völlig anders als die müden Sprüche der Kongresspartei. Kein Wunder, dass die Wirtschaft darin die für das Land dringend benötigte Wachstumsorientierung sah. Die Börse Mumbay preiste diesen „Modi-Effekt“ mit einem Höhenflug ihrer Aktien schon einmal ein. Kräftig nachgeholfen haben dabei auch Stimmen aus dem Ausland. Ungefragt meinten Ratingagenturen und Investmentbanken wie Standard & Poor’s und Goldman Sachs, dass Narendra Modi die beste Person für das Amt des Premierministers sei.
Überraschenderweise spielte die hinduchauvinistische Vergangenheit Modis im Wahlkampf keine Rolle. Der clevere Wahlkämpfer Modi vermied auch jeden Bezug auf nationalististische oder gar chauvinistische Vorstellungen, wie sie in seiner Partei beheimatet sind. Durch die Orientierung auf grundlegende Fragen, gepaart mit seiner entschlossenen Art sofort anzupacken, fand er den richtigen Zugang zu den Wählern. Der Kongresspartei wird es schwerfallen, dieses Herangehen zu überbieten. Erste Stimmen werden daher laut, Rahul Gandhi aus dem Rennen zu nehmen.
Noch ein Wort zur Aam Admi Party (aam admi steht für Mann auf der Straße, Durchschnittsbürger). Sie wurde erst vor einem Jahr gegründet, ihre Ursprünge liegen in einer Protestbewegung gegen Korruption. Ähnlich wie in Europa haben ihre oft unerfahrenen Kandidaten aus dem Stand heraus Politgrößen anderer Parteien besiegt. Das zeigt die tiefe Desillusionierung der Wähler mit der bisherigen Politik, verdeutlicht zugleich die Hoffnung auf eine neue Art des Regierens. Die Partei will nun ihre Aktivitäten von Delhi auf andere Metropolen des Landes ausdehnen. Für Indien eine absolut neue Erfahrung, die dringend benötigten frischen Wind in festgefahrene Strukturen und alte Verhaltensmuster bringen wird.
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