16. Jahrgang | Nummer 25 | 9. Dezember 2013

Die Krise des Freundes

von Egon Bahr

In der legendären Interview-Reihe „Zur Person“ von Günter Gaus
hatte Willy Brandt 1964 – bereits als Parteivorsitzender der SPD
und noch als Regierender Bürgermeister von Westberlin –
auf Bismarcks „einfache Faustregel,
daß die Politik die Kunst des Möglichen sei“,
Bezug genommen und betont, „daß wir heute damit
nicht mehr auskommen, sondern dass […] Politik
geworden ist zu der Kunst, das zunächst unmöglich Erscheinende
dennoch möglich werden zu lassen“. Da Brandt dies
expressis verbis als „auch für die deutschen Dinge“ zutreffend
bezeichnete, geht man sicher nicht fehl in der Annahme,
dass damit nicht zuletzt das bereits ein Jahr zuvor
erstmals der Öffentlichkeit präsentierte Konzept
vom
„Wandel durch Annäherung“ gemeint gewesen sein dürfte.
Mit dieser Herangehensweise wurde Brandt
ab 1969 zum Kanzler der Neuen Ostpolitik der Bundesrepublik,
der Normalisierungsverträge mit Moskau, Warschau,
Berlin (Hauptstadt der DDR) sowie Prag
und zu einem der entscheidenden Wegbereiter
der damaligen Ost-West-Entspannung bis hin zur KSZE.
Seine Leistung wurde unter anderem mit der Verleihung
des Friedensnobelpreises im Jahre 1971 gewürdigt.
Am 18. Dezember 2013 jährt sich
der Geburtstag von Willy Brandt zum 100. Male.
Die Redaktion

Es kam aus heiterem Himmel. Rut rief weinend an: Willy sei nicht ansprechbar. Im November konnte man damit rechnen, dass er sich eine Auszeit genehmigte, um ungestört Ruhe zu finden und neue Kräfte zu sammeln. Der permanente Überdruck musste abgebaut werden. Danach agierte er ein Jahr lang mit voller Kraft bis zum nächsten November. Das wurde als depressive Phase verstanden, was es nur zum Teil war. Brandt war das Gegenteil eines depressiven Menschen. Jeder in herausgehobener Position in Wirtschaft, Kultur oder Politik kennt die stille, zweifelnde Selbsterforschung, sofern er nicht völlig abgestumpft ist. Ein sensibler Mann wie Brandt kannte sie erst recht. Zu seinen Stärken zählte die schnelle Erholungsfähigkeit. Aber es war Sommer, und das war alarmierend. Willy lag in seinem abgedunkelten Schlafzimmer. „Ich habe keine Lust mehr.“ Es ist ein böses Zeichen, wenn beim Ausüben von Verantwortung die Verbindung von Lust und Last verlorengeht. Er lud den ganzen Frust ab, eine Mischung von Resignation und Wut. Er vermutete Ehmke als Quelle von Indiskretionen, über die sich Wehner und Schmidt beklagten. Mit Wehner gehe es nicht, und Schmidt habe ihm scheißfreundlich geschrieben. In der Fraktion gebe es Unzufriedenheit, weil er nicht führe. Ehmke tue als Chef des Kanzleramtes so, als leiste er sich nebenbei auch einen Kanzler. Die Partei sei nicht regierungsfähig. Und Scheel habe er wegen der Korinthenkackerei seines Ministeriums darauf hinweisen müssen, dass der Kreml kein Amtsgericht sei. Er wolle aufhören: „Ich bin gescheitert mit meiner Art, die eben keine Befehle erteilt und Menschen wie Menschen behandelt.“ Sein Wunsch, „Schluss zu machen und den ganzen Kram hinzuschmeißen“, war zum Glück unerfüllbar, weil der Bundespräsident auf Reisen war.
Seit ich Brandts Lebensweg verfolgte, erlebte ich ihn als einen Menschen, der ständig unter Druck steht. Das galt gewiss schon für den Jungen und den Emigranten. Erst recht galt es für den Abgeordneten, den Regierenden Bürgermeister, den Parteivorsitzenden und mehrfachen Kanzlerkandidaten, den Außenminister und schließlich den Bundeskanzler. Mit der Verantwortung wuchs zwar auch die Fähigkeit, dem Druck standzuhalten. Aber jede größere und umfassendere Verantwortung führte ihn an immer neue Grenzen und konnte seine Kräfte überspannen. Wann, wie und wo sollte er sich von der ständigen Hochspannung ausruhen?
Diese akute Frage führte zu der simplen Antwort, eine Auszeit zu nehmen. Schon bald nach Beginn unserer Zusammenarbeit genossen wir ganz allein eine Woche auf der tunesischen Insel Djerba, suchten in den Ruinen römische Münzen, besichtigten die älteste Synagoge des Landes und überfraßen uns auf Einladung des Gouverneurs unmäßig. Bei einem Spaziergang am Strand zog Willy sich plötzlich aus und sprang wie ein Wikinger ins Wasser. Mir war es viel zu kalt. Solche unbeschwerten Momente gab es auch Anfang der sechziger Jahre am Golf von Mexiko. Willy wollte angeln, wie er das von norddeutschen und skandinavischen Gewässern her kannte. Mit der schweren Hochsee-Angel hatte er keine Erfahrung. Unsere Begleiter schrien sofort, dass er die Leine nicht anfassen dürfe. Er verlöre seinen Finger, wenn ein großer Fisch anbisse. Als Anfänger fing ich den größeren Fisch und überließ ihn Willy, der damit vor der Kamera posierte. Wir benahmen uns wie älter gewordene Jungs. Dabei gewann er die Gewissheit, dass ich ihn nicht mit aktuellen Problemen behelligen würde. Was ich auch in den seltenen selbstbestimmten Pausen am Ende eines Arbeitstages nicht tat, wenn wir zum Beispiel ein amüsantes Gespräch über das Buch von Gerhard Zwerenz „Der kleine Herr in Krieg und Frieden“ führten.
Im Urlaub besuchte ich ihn nicht, aber ein Kanzlerurlaub war nur die Verlegung des Arbeitsplatzes an einen anderen Ort. Das Leben des Freundes war die Politik. Ob die Zeit mit der Familie aus längeren oder kürzeren Intervallen bestand, wollte ich nicht erforschen. Er hätte auch nicht gefragt werden wollen. Dann gab es entspannte Minuten, wenn Brandt am Ende einer Kabinettssitzung seine befreiende Frage stellte: „Weiß jemand noch einen guten Witz?“
Dass es diese Krise im Sommer 1972 gab, war übrigens für keinen Außenstehenden erkennbar. Brandts Kraft und Entschlossenheit reichten bis zum Ende jenes turbulenten Jahres. Er war ein starker Charakter. Er kannte seine außergewöhnlichen Fähigkeiten und wusste um seine Bedeutung für unser Volk in einer vielleicht historischen Situation. Getragen von diesem Selbstbewusstsein, von Bescheidenheit und Stolz, wünschte er sich als Inschrift auf seinem Grabstein: „Man hat sich bemüht.“

Aus – Egon Bahr: „Das musst Du erzählen.“ Erinnerungen an Willy Brandt, Propyläen, Berlin 2013. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.