von Heinz W. Konrad
Als „großen, unbedankten Aufklärer der Deutschen“ hat der österreichische Schriftsteller Hans Heinz Hahnl ihn bezeichnet und Marcel Reich-Ranicki formulierte seine Verbeugung vor ihm so: „Nie hat Ludwig Marcuse bei einer Weltanschauung oder einer Organisation Schutz gesucht, nie sich auf ein Programm oder ein System gestützt. Er war und blieb ein Einzelgänger, ein konservativer Anarchist, ein romantischer Rationalist, ein militanter Liberaler und ein passionierter Atheist. Je häufiger in den bundesdeutschen Kulturbeilagen der sechziger Jahre das Wort ‚Gesellschaft‛ vorkam, desto nachdrücklicher verteidigte Marcuse das Private und Individuelle.“
Anfang der 1960er Jahre aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrt, in das Ausbürgerung und Bücherverbrennung durch die Nazis den Juden getrieben hatten, ist der Philosoph und Schriftsteller Ludwig Marcuse 1971 in Bad Wiessee verstorben. Was er an in Sprache gefasste Gerinnung seiner Erfahrungen in und mit dieser Welt des 20. Jahrhunderts hinterlassen hat, bleibt wichtig und hilfreich – zumindest für jeden, der sich um ein „Denken ohne Geländer“ (Hannah Arendt) auch nur bemüht; ein Denken, das Ludwig Marcuse auch dann nahezu vorbildhaft vorgelebt hat, wenn ihm nicht daran gelegen war, jemandes Vorbild sein zu wollen.
Marcuse, unmittelbar vor Beginn der vorletzten Jahrhundertwende geboren, hat nahezu alle Deutschland-, Europa- und weltpolitisch relevanten Entwicklungen und Geschehnisse als Zeitzeuge begleitet. Ein Fazit, das er am Ende seiner Autobiographie zieht, fasst sein Denken wohl präzise zusammen: „Ich weise auf die Sünde meiner Unterlassungen hin, in mehr als einer Absicht. Die erste: mir gut zuzureden, in den kommenden Jahren die immer mehr vom letzten Schatten überschattet sein werden, die Mitmenschen immer weniger zu fürchten. Die zweite: ihnen einzuprägen, daß wir uns bis zur Selbst-Entstellung vor einander ängstigen … und daß die Wurzel aller Entfremdungen, aller Entmenschlichungen, aller Versteinerungen der Mangel an Courage ist, sich zu sich selbst zu bekennen – vor allem dort, wo man sich nicht mit sich identifizieren möchte.“
Einige von Ludwig Marcuses Erfahrungen seien hier angeführt. Sie mögen als wärmste Empfehlung gelten, seine Schrift gründlich und mit Gewinn zu lesen. Sofern nötig, erklärte der Kontext der folgenden Zitate selbige dann eingehend.
„Ich war mein Leben lang (mit zwei unbedeutenden Ausnahmen) ‚freier‛(das heißt: auch schlecht bezahlter) Schriftsteller, ‚freier‛ (das heißt: parteiloser) Bürger, ‚freier‛ Denker (das heißt auch: nie Freidenker): ein Mensch also, der immer so frei war, sich ohne Gewissensbisse zu widersprechen, von keiner Weltanschauung beschützt und deshalb tausend Anfälligkeiten ausgesetzt zu sein.“
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„Es waren immer die falschen Identifikationen, von denen die schlechten Realitäten gut lebten.“
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„Der beste Weg zum Selbst ist die Faszination durch ein anderes Selbst; die lebende Illustration, wie einer sich traut, Er zu sein.“
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„Er (der Philosoph und Soziologe Georg Simmel, d. Red.) vermachte mir das ‚Vielleicht‛, ‚Wahrscheinlich‛, den Enthusiasmus gegen die Sicherheit.“
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„Die Intellektuellen aber kennen leider die Ideen besser als die Wirklichkeit. Die sie ihnen subsumieren, und verleihen der Realität einen Ideengehalt, der ihr nicht zukommt.“
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„Weshalb haben Dichter und Denker durch die Zeiten so wenig politische Erfolge gehabt? Weil die Welt schlecht ist? Könnte es nicht sein, daß sowohl die, welche man die Geistigen nennt, auch die, welche es wirklich sind, es sich immer zu leicht gemacht haben? Daß sie immer dachten, es sei genug, das Ideal zu verkünden, und nie darüber nachdachten, wieweit und wie es durchführbar sei?“
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„Nietzsche war der erste, der mir meine Wahrheit offenbar machte: die Welt hat unendlich viele Mittelpunkte, es gibt keine Welt – nur Welten. Alle Attacken der Sozialpsychologie und Soziologie haben diese Erfahrung nicht erschüttern können.“
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„Ich erinnere mich an nichts deutlicher als an die Stimmung, in der ich damals den Sunset Boulevard zurückfuhr: die Verzweiflung darüber, daß Ideologien wie Lawinen über die Intellektuellen hinwegrasen, während die weniger Belesenen nicht soviel Irrtümer begehen, weil sie nicht soviel lesen.“
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„Wer bereut, hat die Chance, daß er eine Gegenwart haben wird, deren er sich in Zukunft nicht ganz so sehr zu schämen braucht.“
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„Der Druck übt immer einen mächtigen Druck aus; der Glaube an das Gedruckte ist seit Gutenberg einer der mächtigsten Aberglauben dieser Welt.“
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„Niemand machte mich politisch so wach wie der Herausgeber der ‚Weltbühne‛ Ich bin nie von Parteien und elektrisierenden Vokabeln beeinflußt worden, immer nur von Vorbildern. Das entscheidende war damals: Carl von Ossietzky.“
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„Ich … lernte, was der mutigste Mut ist: aufsichzunehmen, mißverstanden zu werden von Freunden, von denen man unter keinen Preis mißverstanden werden möchte. Ich verzeihe es mir nicht, daß ich damals zu feige war, den Vorwurf der Feigheit zu riskieren.“
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„Die Kluft zwischen der Heimat und den Hitler-Emigranten wird sich erst an dem Tag schließen, an dem der letzte Flüchtling, der nicht nur floh, sondern auch zurückschlug, gestorben ist.“
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„Auf dieses mythische ‚Volk‛ gehen die dümmsten Ideologien der letzten Jahrhunderte zurück, nicht nur im Osten.“
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„Toleranz gibt es nur auf dem Boden der Skepsis; sie, nicht der intolerante Vernunft-Glaube hat das Zeitalter der Toleranz eingeleitet. In Rußland aber besitzt man die pure Wahrheit; sie kann keine andere tolerieren.“
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„Bis zu Hamsun wurde man nicht fertig mit dem Konflikt zwischen einer enthusiastischen Neigung für ein Werk und einer dezidierten Abneigung gegen den Werker. Ich habe keine Schwierigkeiten. Ich respektiere viele Werke – aber nicht die, welche sie geschaffen haben. Ich habe für viele Schaffende Respekt – aber nicht für ihre Schöpfungen.“
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„Aber die halbe Höhe sei besser als gar keine; denn aus der Hälfte könnte noch das Ganze werden. So denken meine demokratischen Freunde. Ich aber habe dies Argument schon einmal gehöret: als mir kritischere Kommunisten zugaben, daß es mit ihnen noch nicht allzu gut stände; das aber seien nur Kinderkrankheiten. Die man überwinden werde. Wer aber entscheidet, ob ein Nicht-Funktionieren (in der Demokratie und im Kommunismus) eine tödliche Krankheit ist oder eine Wachstums-Erscheinung? Immer nur das Vorurteil.“
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„Die Vergangenheit verträgt alles, nur nicht den Augenschein von dem, was aus ihr geworden ist.“
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„Eine Weile habe ich an die lauten Operationen geglaubt, die wir Revolutionen nennen, Bis ich sah, daß, wenn immer ein Übel kuriert wurde, ein unbekanntes zur Welt kam, eine neue Version des alten.“
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„Ein mutiges Selbstporträt stellt nicht so sehr den Sieger dar als den besiegten: nicht so sehr die ‚besonnte Vergangenheit‛ als die bewölkte.“
Ludwig Marcuse: Mein zwanzigstes Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie, Diogenes Taschenbuch, Zürich 1975, 400 Seiten, 11,90 Euro.
Schlagwörter: 20. Jahrhundert, Diogenes, Hein W. Konrad, Ludwig Marcuse