16. Jahrgang | Nummer 25 | 9. Dezember 2013

Begegnungen mit Fritz Graßhoff.
Statt einer Laudatio

von Alfons Markuske

Persönlich begegnet bin ich Fritz Graßhoff nie. Er wurde vor dem Ersten Weltkrieg geboren und hätte knapp mein Großvater sein können. Und er war nach dem Zweiten Weltkrieg – im Unterschied zu mir – im westlichen Deutschland wohnhaft.
Über von ihm Gedichtetes auf ihn gestoßen bin ich gleichwohl – in meiner frühen Kindheit, in meiner Jugend sowie als gerade und später auch als nicht mehr ganz so taufrischer Erwachsener. Viermal also. In einem Zeitraum, der sich von der Mitte der 50er bis Ende der 80er Jahren erstreckte. Und jedes Mal ohne die geringste Ahnung, dass die Gemeinsamkeit dieser Begebenheiten im Künstler Fritz Graßhoff lag. Nicht einmal seinen Name erfuhr ich, bevor eine weitere Arabeske das ändern sollte. Die ereignete sich allerdings erst viele Jahre später – bereits jenseits der Milleniumsgrenze.
Fritz Graßhoff, der, lebte er noch, am 9. Dezember seinen 100. Geburtstag hätte feiern können, ist heute in der breiten Öffentlichkeit praktisch unbekannt. Das ist schade, und ungerecht ist es allemal, denn Graßhoff zählte zu jener raren Art von Dichtern, die nicht nur ein waches Gespür für Macken und Malaisen ihrer Zeitgenossen und der Gesellschaft haben, sondern dies auch noch mit satirischem Talent und pointierter Ironie zu Versen mit ganz eigenem Reiz gerinnen lassen können. Wann die erste meiner Begegnungen mit Fritz Graßhoff stattgefunden hat, vermag ich mit letzter Sicherheit nicht zu datieren. Der Zeitpunkt lag in jener Grauzone der Kindheit, in der der Übergang vom konturlosen Nebel der Lebensjahre eins bis drei, vier zum bleibend Erinnerbaren sich gerade erst zu vollziehen pflegt. Es könnte aber ungefähr 1956/57 gewesen sein. Zu jener Zeit waren meine Eltern bereits im Besitz einer so genannten Musiktruhe: Radio, Plattenspieler und integriertes Tonbandgerät in einem Trumm von einem Tonmöbel. Die Reiferen unter uns werden sich noch an die Bandspulen erinnern – mit einen Durchmesser wie von Speisetellern. Fürs Mittagsmahl, wohlgemerkt.
Die Bänder meiner Eltern waren weitgehend gefüllt mit Schlagern der Zeit. So war ich schon als Hosenmatz in der Abteilung Herz, Schmerz und Schmalz zu Hause, umdudelt von Caterina Valente, Willy Hagara und nicht zuletzt von Vico Torriani. Des Letzteren „Marina, Marina“ intonierte ich mit der Inbrunst eines Fünfjährigen bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Weil ich damals jedoch mit dem Begriff Charme noch nichts mir Bekanntes assoziierte, lautete der Refrain bei mir: „Marina, Marina, Marina, / dein Chic und dein Schaum, der gefällt“. Das nachgerade reflexartig einsetzende penetrante Amüsement der Erwachsenen an eben dieser Stelle blieb mir hingegen ein Rätsel.
Zu den häufig gespielten Titeln – mein Vater hatte es überdies mit Seemannsliedern – gehörte auch Hans Albers‘ „Nimm mich mit Kapitän auf die Reise“. Dass dies meine erste Begegnung mit Fritz Graßhoff war, realisierte ich allerdings erst mehr als ein halbes Menschenleben später – nach der Jahrtausendwende, als meine dritte Begegnung mit dem Dichter, auf 1973 datiert, quasi in eine zweite Phase trat. Erst dann erfuhr ich: Graßhoff, der auch Zeichner, Maler und Schriftsteller war, bestritt in den 1950er Jahren seinen Lebensunterhalt zu einem maßgeblichen Teil mit dem Schreiben von Schlagertexten – für Lale Andersen, Freddy Quinn sowie eben auch Hans Albers. Und „Nimm mich mit Kapitän …“ war keineswegs der einzige Schlager mit einem Graßhoff-Text, den Albers bekannt machte. Der Dichter soll zeitlebens darunter gelitten haben, von Zeitgenossen nicht selten vor allem über diese Abteilung seines Schaffens bewertet worden zu sein. Aber damit ich greife vor.
Etwa zehn Jahre gingen ins Land, in denen ich den Kindergarten verließ, die Milchzähne bleibenderer Ausstattung wichen und die ersten acht Schuljahre absolviert wurden. Als pubertierender Knabe von 14 Jahren, in einem Alter also, in dem man schon aus ontogenetischen Gründen jeder noch so harmlosen Normverletzung gegenüber sehr aufgeschlossen ist, hatte ich meine zweite Begegnung mit dem Dichter.
In den Sommerferien nach dem achten Schuljahr unternahmen wir eine Klassenfahrt mit Eisenbahn und Fahrädern. Von Halle an der Saale aus über Eckartsberga und Jena bis nach Saalfeld und Rudolstadt. Unterwegs machte uns einer der (mit langer Leine) Aufsicht führenden erwachsenen Begleiter mit diversem Liedgut der Abteilung Volksmusik und artverwandter Bereiche vertraut. Dieser Werklehrer Erich R. war ob seiner einfühlsamen Art von uns Jugendlichen besonders geschätzt, so dass wir schon ihm zuliebe nicht auf, wie man bald sagen würde, Popmusik bestanden. „Das Schiff streicht durch die Wellen“ habe ich bei ihm ebenso gelernt wie „Als die Römer frech geworden“, von dessen unzähligen Strophen ich danach diverse wieder vergaß, die mir aber allesamt durch ein anderthalb Jahrzehnte später im erweiterten Familienkreis entdecktes und erbetteltes Kommersbuch bis heute jederzeit in Reichweite stehen.
Und dann war da noch die Ballade vom gewaltig furzenden Ritter, dem Herrn von Prunzelschütz, die den Jungmädchen unserer Reisegruppe die Schamesröte auf die Wangen trieb, was für uns Jungknaben den Reiz des Liedes nur noch erhöhte. Wir konnten uns jedenfalls Text und Melodie gar nicht rasch genug einprägen:

Das war der Herr von Prunzelschütz,
der saß auf seinem Rittersitz
mit Mannen und Gesinde
inmitten seiner Winde.

Die strichen, wo er ging und stand,
vom Hosenleder übers Land
und tönten wie Gewitter.
So konnte es der Ritter!

Zu Augsburg einst, auf dem Turnier,
bestieg er umgekehrt sein Tier,
den Kopf zum Pferdeschwanze,
und stürmte ohne Lanze.

Doch kurz vor dem Zusammenprall
– ein Donnerschlag, ein dumpfer Fall –
Herr Prunz mit einem Furze
den Gegner brachte zum Sturze.

Da brach der Jubel von der Schanz.
Herr Prunzelschütz erhielt der Kranz.
Der Kaiser grüßte lachend
und rief: „Epochemachend!“

Ein Jahr darauf Herr Prunzelschütz
saß froh auf seinem Rittersitz
mit Mannen und Gesinde
inmitten seiner Winde.

Da kam ein Bote kreidebleich,
und meldete: „Der Feind im Reich!
Das Heer läuft um sein Leben.
Wir müssen uns ergeben.“

Flugs ritt Herr Prunzelschütz heran,
lupft seinen Harnisch hinten an
und lässt aus der Retorte
der Winde schlimmster Sorte.

Das dröhnte, donnerte und pfiff,
so dass der Feind die Flucht ergriff.
Da schrie das Volk und wollte,
dass er regieren sollte.

Herr Prunz indessen todesmatt,
sprach: „Gott, der uns geholfen hat,
der möge mich bewahren.“
Und ließ noch einen fahren.

Der letzte war’s, der schwach entfloh.
Drauf schloss für immer den Popo
Herr Prunz, der frumbe Ritter,
und alle fanden’s bitter.

Er ward begraben und verdarb.
Die Burg zerfiel. Doch wo er starb,
steht heute eine Linde.
Da raunen noch die Winde.

Die Wirkung der Verse war gesungen eine noch erheiterndere denn gesprochen. Wer’s probieren möchte, findet die Noten im Internet.
Die Klassenfahrt dauerte, wenn ich mich recht entsinne, acht bis zehn Tage. Wie oft der Ritter dabei intoniert worden ist, kann leider nicht mehr exakt erinnert werden. Aber an der Stufe „bis zum Erbrechen“ wird wohl nicht viel gefehlt haben …
Auch diese Begegnung trug sich zu, ohne dass mir die Urheberschaft Fritz Graßhoffs an den Prunzelschützschen Heldentaten offenbar wurde. In diesem Fall ergab sich die Aufklärung überhaupt erst jüngst und höchst zufällig – bei den Recherchen zu den vorliegenden Zeilen.
Bis zur nächsten Begegnung mit Fritz Graßhoff vergingen sieben weitere Jahre. Das war eine Spanne, in der immerhin ein Abitur abgelegt und ein Grundwehrdienst angetreten, erlitten sowie überlebt wurden.
Letzterer Schicksalsschlag traf nicht alle Schulfreunde. Einer der daheim gebliebenen, Jörg K., hatte die Zwischenzeit – wir befinden uns jetzt im Jahre 1973 – genutzt, mit einem in Polen in Lizenz produzierten Grundig-Tonbandgerät zahlreiche Bandspulen nicht nur mit Beatmusik (damals ein bis in höchste Kreise hinein gängiger Begriff) zu füllen, sondern auch mit den Gesängen seinerzeit im Zenit ihrer Popularität stehender Blödelbarden wie Insterburg & Co. oder Horst Koch. Die – so ergaben bereits die ersten Hörproben – trafen meine bevorzugte Art von Humor schon ganz gut. Daneben hatte Jörg K. aber auch Nonsensphilosophen mit nachgerade intellektuellem Tiefgang im Angebot – namentlich Ullrich Rosski sowie Schobert & Black. Letztere – in Gestalt eines Mitschnitts (der pejorative Begriff „Raubkopie“ sollte erst sehr viel später in Gebrauch geraten) ihres grandiosen Doppelalbums „lebend. 7 Jahre Schobert & Black“ – wurden stehenden Fußes zu meinen Favoriten.

Exkurs: Das lag zunächst einmal daran, dass beide so genialische Limericks zu Gehör brachten wie diesen:

Ein Pfarrer machte in Kamen
gerade sein Fahrschulexamen.
Da stürzte ein Laster
Auf Auto samt Paster.
So kommt man durch Laster um. Amen!

Oder diesen:

„Seliger“, sagte in Theben
ein Weiser, „ist Nehmen denn Geben.
Ob Gutes, ob Schlimmes –
oh gib es nicht, nimm es!“
Sprach’s und nahm sich das Leben.

Oder diesen:

Jemand wettete auf den Azoren,
sich ein Loch in den Schädel zu bohren
bis hinunter zum Herzen
und zwar ganz ohne Schmerzen.
Er hat die Wette verloren.

Oder … – nein, hier muss Schluss sein, denn sonst wird die Grenze des urheberrechtlich unbedenklichen Zitierens urheberrechtlich zu Recht geschützter künstlerischer Leistungen vielleicht doch unbeabsichtigt überschritten.
Bliebe allenfalls noch anzumerken, dass es – bestätigten Gerüchten zufolge – genau diese und zahlreiche weitere Limericks in den Programmen von Schobert & Black waren, die in ein Nachwuchstalent namens Thaddäus Faber das Samenkorn des Epigonentums pflanzten, das sehr viel später tatsächlich aufging. So dass Blättchen-Leser nunmehr seit Jahren mit dessen Limericks behelligt werden.

Was mich als damaligen Jungmarxisten und überzeugten Klassenkämpfer an Schobert & Black besonders faszinierte war, dass dieses Duo nicht davor zurückschreckte, den Schwestern und Brüdern westlich der Elbe eine Art Parteilehrjahr zu verpassen, das sich gewaschen hatte. (Auch wenn diejenigen, die es besonders nötig hatten, – die Träger der braunen Erblast sowie die nachwachsenden ewig gestrigen Dumpfbacken und nicht zuletzt die neuen Wohlstandspießer – wohl schwerlich in den Konzerten von Schobert & Black saßen.) Deutlich heraus und beißend auf den Punkt.
Auf zwei Stücke traf dies noch mehr zu als auf andere, und der gesungene Vortrag in ostpreußischer Mundart trug das Seinige zur Wirkung (speziell auf mich) bei.
Da war zunächst:

Des Heizers Traum
Ostpreußische Ballade vom schönen Heimatlandgefühl

Klack drei: der Heizer träumt rasant
von Jugendzeit im Heimatland.
Jott Vater sitzt auf Wolkenbank
bei einer Flasche Bärenfang,
ißt Kuddln und läßt Beine schlurn –
ein Fuß ist jrößer als Masurn –
das Jungche unten steht und schnappt
sich wech, was aus der Satte schwappt.
Da hat er ihm auch schon bemerkt
und winkt ihm jütich und jestärkt.

Um vier Uhr jraut der Morjen fahl.
Der Heizer steijt vom Ehjemahl.
Der Wecker schrillt, die Diele kracht,
das Heimweh wird im Bauch gemacht
(und bringt den oben im Verein
natürlich scheen Penunse ein!)

Palmnicken an der Küchenwand
ist auch von wejen Heimatland.
Er braucht es nicht, – nicht unbedingt –:
da bad‘t er, wenn er Kaffee trinkt.
Nicht, daß er dort jern leben mecht,
denn schließlich hier jeht ihm nicht schlecht!‘
Er hat im Kopp kein scharfes Ziel –
bloß so sein Heimatlandjefühl.

Steht er dann auf der Jüterlok,
fährt jeistich über Jüterbog
er von Stettin nach Kenigsbarj,
jleich strahlt er wie ein Kindersarj.
Nicht, daß das etwa heißen sollt,
er hätt es jern erobern wollt –
doch wenn sie alle Heimat schrein,
kann er doch nicht dajejen sein!

Hier bunkert er, heizt nochmal durch
und braust dann ab nach Insterburj.
Von da ist bloß noch Augenblick –:
schon ist er drin im scheenen Lyck,
rangiert und kachelt wieder ein
und fährt zurück nach Allenstein.
Hier jibt er die Parole aus:
Mein Heimatland ist mein Zuhaus!
Die Polen denken darauf prompt:
Jetzt raucht, und Nemietzki kommt!

Das war ja doch man bloß Jefopp!
Denn Beeses hat er nicht im Kopp.
Nicht, daß er da jern leben mecht –:
hier jeht ihm schließlich jarnicht schlecht!
Im Jrunde ist es Ihm ejal.
Hat Eijenheim in Frankenthal!

Die Seen, Allenstein und Lyck –:
natürlich denkt er jern zurück!
Und morjens, allemal um vier
sieht er Palmnicken links der Tür –:
da kommt schon Heimatlandjefühl!!
Er hat jewiß kein scharfes Ziel,
doch wenn sie alle Heimat schrein,
dann kann er nicht dajejen sein!

Und den Finger noch tiefer in der Wunde hatte dieses Opus:

Kleiner großdeutscher Nationalfriedhof

Hier ruht in Gott
der Schreibtischmörder Schlee
Franz Amadeus Ephraim,
Regierungsrat a. D.
In seinen Händen hielt er nie
Pistole oder Flinte.
An seinen Fingern klebte nur
a bisserl rote Tinte.
Auch die Pension, sie ward ihm nicht versagt,
und droben ist er auch nicht angeklagt.

Hier ruht er gut,
hier ruht er gut
auf dem großdeutschen Nationalfriedhof.
Hier ruht er gut,
hier ruht er gut
auf dem deutsch‘ Nationalfriedhof.

Hier ruht in Frieden
und in stolzer Trauer
der Schindergeneral
Karl-Eugen Kolbenhauer.
Er war ein prominenter Kopf-und Schürzenjäger
wie Eichenlaub-mit-Totengräberspaten-Träger.
Er schläft in seinem Kasten sanft und unversehrt,
obwohl er nach Roslawl
in den Schlamm gehört.

Auch er liegt hier,
auch er liegt hier
auf dem großdeutschen Nationalfriedhof.
Auch er liegt hier,
auch er liegt hier
auf dem deutsch‘ Nationalfriedhof.

Hier ruht der Drahtmatratzenfabrikant
Herr Dr. jur. h. c. Max Pasqual Weise,
der Stifter der Erasmus-, Zinzendorf-,
Donoso Cortes-Preise,
wie auch Erfinder des bewährten Stacheldrahtklosetts
für Folterschulen, Abwehr und Kazetts.
Indem er sich den Dornenkranz
zum Warenzeichen nahm,
half vielen er durch Leid zur Krone
lobesam.

Jetzt liegt er hier,
jetzt liegt er hier
auf dem großdeutschen Nationalfriedhof.
Jetzt liegt er hier,
jetzt liegt er hier
auf dem deutsch‘ Nationalfriedhof.

Zum nachdrücklich geäußerten Missfallen meiner Eltern, die meinten, dass man mit seinen Spargroschen „etwas Vernünftiges“ anfängt, wozu keinesfalls der Erwerb eines tschechoslowakischen Tesla-Tonbandgerätes für knapp 1.000 Mark der DDR zählte – damals für einen nichtwerktätigen, weil in Kürze studierenden 21-Jährigen tatsächlich eine Irrsinnssumme – zog ich diesen Erwerb durch, was neben antielterlicher Aufmüpfigkeit, die flott von der Hand ging, vor allem Ausdauer erforderte: Täglich morgens zur Ladenöffnung ins innerstädtische RFT-Fachgeschäft, denn die Geräte wurden nur in sehr übersichtlicher Zahl über dem Ladentisch gehandelt. Nachfrager wurden auch im Wiederholungsfall gern mit einem vagen „Vielleicht morgen …“ abgespeist. Aber wenn man dies nur lange genug wörtlich nahm, war das Glück des Besessenen einem schließlich doch hold. So konnte ich mir letztlich die Bänder von Jörg K. auf eigene überspielen …
Im Übrigen schrieb ich damals und noch viele Jahre danach nicht nur das Verdienst an den sehr passenden Melodien der Lieder Schobert & Black zu, sondern an den Texten gleich mit. Mangels Sachkenntnis.
Die Spanne bis zu meiner nächsten, der vierten Begegnung mit Fritz Graßhoff dehnte sich dann auf 15 Jahre, in denen nicht nur ein Studium absolviert und nachfolgendes wissenschaftliches Bemühen mit Promotion und Habilitation geahndet wurden. Viel wichtiger noch – eine Familie gründete, deren bleibende Manifestation zwei Söhne sind, auch wenn die Ehe ihrer Eltern noch in dieser Periode bereits wieder endete.
Die erneute Begegnung mit Fritz Graßhoff allerdings hatte damit nichts zu tun. Sie hatte ihrerseits jedoch eine Vorgeschichte, die wiederum bis in die späten 60er Jahre zurückreicht. Während meiner vier Jahre auf der EOS entwickelte ich eine in hohem Maße schwärmerische Verehrung für meine noch sehr jugendliche Klassenlehrerin. Das soll vorkommen, führt nur äußerst selten in die Nähe so dramatischer Verläufe wie in „Aus Liebe sterben“ (1970, unvergesslich: Annie Girardot) und legt sich spätestens nach Verlassen des Bildungstempels meist wieder. Letzteres war bei mir nicht der Fall, so dass ich in den Folgejahren diese Lehrerin – und ihren Mann – auch privat kennenlernte. Im Laufe der Zeit wurde daraus eine Freundschaft, und gegen Ende der 80er Jahre entstand die schöne Tradition, dass ich die beiden im Sommer jeweils auf ein paar Tage an ihrem beständigen Urlaubsdomizil in MeckPomm besuche (das anfangs noch nicht so hieß) – zum Segeln, zum Wandern, natürlich zum Reden und Natur und um Ruhe zu genießen.
Die häufig lauen Abende klingen meist damit aus, dass er seine Mundharmonika hervorholt und sie mit ihrer melodiösen Singstimme muntere bis melancholische Weisen vorträgt.
Zu solchen Stunden, die meist gegen Mitternacht mit einem Harmonika-Solo von „Lili Marleen“ – ideologisch anrüchig und überdies unsäglich sentimental, ich weiß, aber zum Heulen schön – enden, passen die „Zwei Königskinder“ und „Ännchen von Tharau“ ebenso wie eines meiner absoluten Lieblingslieder: „Jenseits des Tales standen ihre Zelt“. Und, wie bei Seglern zu erwarten, Shantys und andere Seemannslieder. Gern auch frivole. Bei einer dieser Gelegenheiten machte ich Bekanntschaft mit „Oh Signorina-rina-rina“ :

Der Seemann ist zu jeder Stund
Ein Opfer seiner Pflichten,
Und geht es einmal nicht mehr rund,
Und sinkt er auf den Meeresgrund,
Behält er doch den Priem im Mund,
Denn darauf kann er nicht verzichten

Oh Signorina-rina-rina, oh Signore
So viele Haare und keinen Kamm!
Oh Signorina-rina-rina, oh Signore
Bonjour Monsieur, pardon Madame!

Der Wind weht meistens schräg von vorn.
Wenn es windstill ist, weht keiner.
Die Mädchen haben auf Kap Hoorn
Den Reißverschluß gewöhnlich vorn
Und sind so scharf wie Doppelkorn.
Mien Jung! Da staunt selbst unsereiner!

Oh Signorina-rina-rina, oh Signore
[…]

Der Sägefisch braucht kein Attest,
Der sägt auf allen Wellen.
Die Mädels sind auf Hammerfest
Viel fester, als sich denken lässt.
Nur wer schon einmal dagewest,
Mien Jong, kennt ihre Dardanellen!

Oh Signorina-rina-rina, oh Signore
[…]

Die Königin von Eschnapur,
Die konnte was vertragen.
Die trug bei jeder Temp‘ratur
Nix weiter als ‘ne Armbanduhr!
Und damit ging sie nachts auf Tour.
Wohin? Tja, das kann ich euch nicht sagen …

Oh Signorina-rina-rina, oh Signore
[…]

Weder unter dem Mecklenburger Sternenhimmel noch bei Motoryachttouren, die wir in späteren Jahren zusammen unternahmen – nicht ohne zu der Tage Abgesang auch die „Signorina“ anzustimmen – kam ich je auf die Idee, nach der Herkunft des Liedes zu fragen.
Als 2007 meine Mutter gestorben war, entdeckte ich bei der Auflösung ihrer Wohnung einige Schallplatten, die wohl meinem Vater gehört hatten. Eine Lizenzscheibe von Amiga mit Schlagern von Hans Albers war darunter, und die „Signorina“ war dabei – Text: Fritz Graßhoff.
Da wusste ich allerdings – dank Internet und eBay – bereits um ihn, und das war schlussendlich einige Jahre zuvor so gekommen: Die alten Tonbänder mit Schobert & Black hatten irgendwann angefangen zu leiern. Gerade noch rechtzeitig waren Musikkassetten in die schöne Warenwelt getreten. So folgte ein weiterer Überspielvorgang, und noch bevor die Ahnung aufkommen konnte, dass den Kassetten ein ähnliches Schicksal beschieden sein würde wie den Bändern, begann die Ära des PCs, und irgendwann Ende der 90er Jahre drang zu mir durch: Mit diesem Gerät und einschlägiger Software können Magnetbandaufnahmen digitalisiert werden – quasi „für die Ewigkeit“. Ich ließ auch diese konservatorische Chance nicht ungenutzt verstreichen, obwohl, ehrlich gesagt, von Hörgenuss bei den inzwischen reichlich verrauschten Aufnahmen eigentlich längst nicht mehr die Rede sein konnte.
Damit hätte die Geschichte ihr Bewenden haben können. Stattdessen aber erschienen Internet und eBay auf der digitalen Bildfläche. Und dann musste nur noch das Millennium wechseln, bevor ich erste Erfahrungen mit eBay machte und rasch realisierte, dass man auf diesem Wege auch nach alten Vinyl-Scheiben fahnden kann. Und plötzlich war ich nur noch wenige Mausklicks davon entfernt, das Album „lebend“ selbst in den Händen zu halten. Und damit auch Fritz Graßhoff, von dessen Existenz ich bis dato noch immer nichts ahnte! Auf der Plattenhülle fand sich sein Name – als der des Autors von „Heizers Traum“ und „Nationalfriedhof“.
Ein Schock war das schon. Fritz wer? Christian Grashof, begnadeter Schauspieler – der war bekannt. Aber mit „ß“ und Doppel-„f“? Nie gehört.
Doch diese Wissenslücke ließ sich nun dank Internet praktisch im Handumdrehen schließen. Die Eckdaten und Lebensstationen von Fritz Graßhoff müssen – da auf Wikipedia allzeit präsent – hier nicht rekapituliert werden. Der alsbald erfolgende Erwerb einiger seiner Hauptwerke vertiefte meine latent bereits angelegte Verehrung für den Dichter rasch. Zuvorderst zu nennen ist dabei „Graßhoffs unverblümtes Lieder- und Lästerbuch. Ein Leitfaden durch die Molesten des Daseins unter besonderer Berücksichtigung der Dickfelligkeit des Publikums. Stramm bebildert von ihm selbst, und verlegt bei Kiepenheuer & Witsch in Köln“ im Jahre 1965. (Zum Zeitpunkt des Abfassens der vorliegenden Zeilen antiquarisch noch in wenigen Exemplaren und zum Teil zu Spottpreisen zu haben – etwa auf www.zvab.com.)
Diesem Kompendium verdanke ich unter anderem den Genuss weiterer Strophen des „Nationalfriedhofs“. Zum Beispiel dieser:

Hier ruht der Hexenrichter
Theodor Immensis Glänsig.
Er unterschrieb die Urtel alle
eygenschwänsig.
Und that er dies
vermöge seynes Schöpfers Kraft
zu beyder Lust
auch mit dem eygnen Saft.

Hier ruht das Glied
des Oberleutnants
Siegfried Frieder,
das aktenkundig letzte heile seiner Glieder,
im Vaterland der Bomben und der Eicheln
einst viel begehrt zum Scherzen und zum Streicheln.
Es tritt allein
vor Gottes Angesicht,
wenn die Drommete schallt.
Alleiner geht es nicht.

Hier ruht der Großagrarier
Jan Michael Franz Ludwig Breetz aus Offeln.
(Die kleinen Nachbarn ruhen unter den Kartofteln.)
Er war der lebende Beweis,
durch Tod zu überdauern.
Das Brot aus seinen Händen schmeckte nach dem Schweiß
der vielen kleinen
abgewürgten Bauern.

[…]

Hier ruht der Polizeiwachtmeister
Willi Schmidt
aus Mange.
Er diente seinen Vaterländern mit
der Gummistange.
Weil er als Ordnungsknecht
ein braver Mann war,
verdrosch er jeglichen nach jedem Recht,
das grade dran war.

[…]

Hier ruht der Apotheker
Dr. Philipp Dillge.
Er wurde Milliardär
durch Kleister plus Vanille.
Und machte er das Volk, sein irdisch Los zu bessern,
zu einem Volk von frommen Puddingessern.
Ihr Köche, hört
und sagt es den Kollegen:
im dümmsten Kleister steckt
der größte Segen.

Auch „Die große Halunkenpostille. Songs. Balladen. Moritaten“ aus des Dichters Feder überführte ich in meinen Besitz – und zwar nicht nur in gedruckter Form sondern auch als Electrola-Pressung unbekannten Jahrgangs. Auf dieser Scheibe leihen Stars wie Gustav Knuth, Hanne Wieder und Ralf Bendix den Graßhoffschen Versen ihre Stimme. Etliche Vertonungen hat Norbert Schultze beigesteuert, der Komponist von „Lili Marleen“, auf dessen Konto auch die Melodien von „Nimm mich mit Kapitän …“ und der „Signorina“ gehen. Vor allem aber ist auch Fritz Graßhoff höchstpersönlich zu hören: „Meine Frau will mich vergiften“ – lautete gottseidank nur der Titel des betreffenden Liedes.
Der Dichter selbst, er war Anfang der 80er Jahre dauerhaft nach Nordamerika ausgewandert, starb dem Vernehmen nach eines natürlichen Todes – am 9. Februar 1997 in Hudson/Kanada. An einem Tage also, an dem ich immer noch nicht wusste, dass es ihn gab, obwohl es ein paar seiner Werke bereits in den Kanon meiner ganz persönlichen „Evergreens“ geschafft hatten. Auch solchen Verlauf der Dinge nennt man gemeinhin – das Leben.

P.S.: Im Jahr von Fritz Graßhoffs 100. Geburtstag kommt dem zur Verlagsgruppe Oetinger gehörenden Arche Literatur Verlag das Verdienst zu, mit einer Neu-Ausgabe angemessenen Umfangs – 384 Seiten; Titel: „Flaschenpost mit Weltgeist. Gedichte in 13 Kapiteln“ – würdig an den Dichter erinnert zu haben. Gleichzeitig ermöglichte der Verlag dem Autor den Kontakt zum Rechtinhaber an Fritz Graßhoffs Werken, mit dessen freundlicher Genehmigung der Abdruck Graßhoffscher Verse im Rahmen dieses Beitrages erfolgt. Dafür sei beiden – Verlag und Rechteinhaber – ebenso ausdrücklich wie herzlich gedankt!