16. Jahrgang | Nummer 24 | 25. November 2013

Wider das Vergessen
Im Gespräch mit – Nils Busch-Petersen

Herr Busch-Petersen, in Berlin kennt man Sie durch Ihre regelmäßige Präsenz in diversen Medien als eloquenten, pointierten Hauptgeschäftsführer des hiesigen Einzelhandelsverbandes. Da plädieren Sie für längere Ladenöffnungszeiten, mehr verkaufsoffene Sonntage und ähnlich prosaische Dinge. Privat gehört Ihre Leidenschaft aber unter anderem der Synagogalmusik. Wurde Ihnen diese Passion in die Wiege gelegt?
Nils Busch-Petersen: Keineswegs. Interesse und Freude an Musik im Allgemeinen entwickelte sich allerdings bereits im Elternhaus. Aber schon mit einem Instrument hat es nicht geklappt: Mein Trompetenlehrer starb, da hatte ich erst ein Mundstück; spitze Zungen behaupteten damals einen Zusammenhang … Am intensiven Konsumieren von Musik hat mich das jedoch nicht gehindert. Konkret mit jüdischer, insbesondere synagogaler Musik kam ich jedoch erst als Erwachsener in Kontakt – durch Radioübertragungen von Gottesdiensten mit dem damaligen legendären Sänger und Oberkantor der Jüdischen Gemeinde von Berlin, Estrongo Nachama, aber vor allem durch Freundschaften zu jüdischen Familien. Dadurch kam es zu Besuchen in Synagogen, vor allem jener in der Berliner Pestalozzistraße in Charlottenburg, wo ausschließlich die Kantor, Chor und Orgel vereinigende Liturgie nach Louis Lewandowski gepflegt wird. Diese Tradition geht maßgeblich auf das Wirken Nachamas zurück. Stark ergriffen hat mich diese Musik dabei von Anfang an, ganz besonders aber „live“, in der Synagoge, obwohl ich kein Hebräisch kann. Diese Musik, auch durch die Art ihrer Darbietung, geht direkt ins Herz: Man spürt, dass da etwas Heiliges mit einem passiert. Worte reichen nicht aus, um diese seelischen Schwingungen angemessen zu beschreiben. Aber wer schon einmal den gesungenen Segen am Ende eines jüdischen Gottesdienstes – eine Komposition von Solomon Sulzer – hat auf sich wirken lassen, der weiß, wovon ich rede.
Vom heutigen Kantor der Synagoge in der Pestalozzistraße, Isaac Sheffer, und der Leiterin des dort als Chor wirkenden Synagogal Ensembles Berlin, Regina Yantian, habe ich im Laufe der Zeit mehr über diese wunderbare Musik erfahren und auch darüber, welchen furchtbaren Kahlschlag die antisemitische Ausrottungspolitik des Dritten Reiches nicht zuletzt auf diesem Felde hinterlassen hat. Da ist ein auch deutsches und europäisches Kulturgut fast vernichtet worden. Und irgendwann waren wir uns einig, dass diese Musik aus dem synagogalen Raum herausgetragen werden muss, um dem weiteren Vergessen entgegenzuwirken. Dieser Konsens wurde zum Gründungsauslöser der „Freunde und Förderer des Synagogal Ensembles Berlin“, eines Vereins, in dem ich seither mitarbeite und der bereits die Produktion zweier CDs des Ensembles ermöglicht hat.

Sie sind überdies „Erfinder“ und Gründungsdirektor des Louis-Lewandowski-Festivals für synagogale Chormusik, das in diesem Jahr bereits zum dritten Mal stattfinden wird. Die Sponsoren – was für ein Festival sakraler Musik ziemlich einmalig sein dürfte – entstammen überwiegend dem Berliner Einzelhandel, von den großen Kaufhäusern und Malls bis hin zu Lebensmitteldiscountern. Wie kam es dazu?
Busch-Petersen: Die Entstehungsgeschichte ist tatsächlich etwas – wie nannten Sie es so trefflich? – prosaisch. Wir Kaufleute öffnen sehr gerne am vierten Advent, und unsere Kunden schätzen diesen Einkaufstag sehr. Der Gesetzgeber räumt diese Möglichkeit zwar ein, aber ein Rechtsanspruch darauf besteht nicht. Die Sache schien schwer lösbar, denn zu diesem Zeitpunkt fanden keine Ereignisse statt, zu deren „Begleitung“ verkaufsoffene Sonntage in Berlin üblicherweise genehmigt werden. Anderseits träumte unser Chor seit Jahren von Begegnungen mit anderen Chören.
Klar war von Anfang an, dass dabei natürlich auch etwas für die Stadt und ihre Bürger herauskommen musste und dass dies nicht zuletzt eine handfeste Unterstützung durch Sponsoren voraussetzte. Davon musste ich meine Verbandsmitglieder aber gar nicht lange überzeugen.
Der Rest ist schnell erzählt. Ich beriet mich mit dieser und mit jenem, das Interesse für Synagogalmusik und das Bestreben, dem Vergessen im Gefolge Nazi-Barbarei entgegenzuwirken, kamen hinzu. So entstand die Idee des Louis-Lewandowski-Festivals, das schließlich am Freitag vor dem vierten Advent des Jahres 2011 Premiere hatte und am Adventssonntag selbst mit einem gemeinsamen Abschlusskonzert aller teilnehmenden Chöre in der Synagoge in der Rykestraße endete. Und dieser Sonntag war dann auch ein verkaufsoffener.
Die tatkräftige Unterstützung für das Festival, das soll nicht unerwähnt bleiben, ist im Übrigen keineswegs auf den Einzelhandel beschränkt. Auch Unternehmen anderer Branchen und weitere Sponsoren helfen sehr aktiv. Besonders unterstützt uns auch von Anfang an das Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf.

Und warum ausgerechnet Lewandowski?
Busch-Petersen: Dass diese Frage sich überhaupt stellt, ist auch eine der Spätfolgen der Nazizeit, denn als Lewandowski 1894 starb, war er als der Genius der Synagogalmusik in Deutschland – er hatte sie nicht weniger denn revolutioniert – weithin bekannt und anerkannt, nach einer beeindruckenden Karriere. Als 1821 geborenes Kind einer armen Familie aus Wreschen, Provinz Posen (heute Poznan, Polen) war Lewandowski von den Eltern nach Berlin geschickt worden. Hier fand er Aufnahme in der jüdischen Gemeinde, wurden die schöne Stimme des Jünglings und seine hohe Musikalität entdeckt und erfuhr er Förderung. Insbesondere der Kantor Ascher Lion sowie Salomon Plessner, einer der Lehrer Lewandowskis, und vor allem Alexander Mendelssohn, der ein Enkel von Moses Mendelssohn und ein Cousin von Felix Mendelssohn Bartholdy war, sind hier zu nennen. Damit wurden die Weichen dafür gestellt, dass Louis Lewandowski schließlich als erster Jude an der Berliner Akademie der Künste immatrikuliert und nach dem Studium zu einem erfolgreichen Komponisten wurde. 1865 ernannte man ihn zum Königlichen Musikdirektor, und 1866 wurde er zum Dirigenten an die in jenem Jahr eingeweihte Neue Synagoge in der Berliner Oranienburger Straße berufen. Mit der braunen Pest aber verschwanden auch Lewandowski und sein Werk – wie so vieles andere – aus dem öffentlichen Bewusstsein.

Worin hatte das Revolutionäre von Lewandowskis Synagogalmusik bestanden?
Busch-Petersen: Dazu muss man einen Blick auf die Zeit vor Lewandowski werfen. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts prägte ausschließlich der allein singende Kantor die traditionelle jüdische Liturgie. Musikinstrumente wurden grundsätzlich abgelehnt. In den zu dieser Zeit stark wachsenden städtischen jüdischen Gemeinden in Deutschland gab es das Bestreben, den Gottesdienst lithurgisch neu zu gestalten und ihm auch mit Hilfe der Musik eine klarere Struktur und bessere (akustische) Verständlichkeit zu geben. Darüber hinaus empfand sich das liberale städtische Judentum als dem deutschen Volk zugehörig, wollte sich in hohem Maße gesellschaftlich integrieren und diesem Bestreben auch durch modernere sakrale Musik Ausdruck verleihen. Das führte dazu, dass die deutsche Rabbinerversammlung im Jahre 1845 beschloss, dass Orgeln in Synagogen nunmehr grundsätzlich zulässig sind. Das bis heute bestehende Schisma zwischen orthodoxen und liberalen Juden in Deutschland geht übrigens nicht unmaßgeblich auf diese Grundsatzentscheidung zurück.
Vor diesem Hintergrund entwickelte Lewandowski seine liturgische und künstlerische Reformidee, dem Kantor einen Chor zur Seite zu stellen und die Wirkung beider durch den Einsatz der Orgel zu ergänzen und zu verstärken. Damit traf er den städtischen jüdischen Zeitgeist. Die Auseinandersetzung mit den Anhängern der traditionellen Liturgie zog sich zwar über Jahre hin, aber schließlich setzte sich die Lewandowskische in Berlin und bald auch in vielen anderen Städten Deutschlands durch. Das führte dazu, dass vor der Shoa – in der deutschen Hauptstadt lebte damals ein Drittel aller deutschen Juden, 180.000 – alle zwölf großen Synagogen Berlins mit jeweils über eintausend Sitzplätzen eine Orgel hatten und die Liturgie nach Lewandowski feierten. Nach dem Dritten Reich war diese Tradition fast komplett verschwunden – in Berlin wie in ganz Deutschland.

Das Festival war von Anfang als ein internationales konzipiert. Wie wählen Sie die Chöre aus aller Welt aus?
Busch-Petersen: Natürlich kannte Regina Yantian, die heute auch als künstlerische Leiterin des Festivals fungiert, die internationale Szene. Was uns an Kenntnissen dennoch fehlte, haben wir übers Internet recherchiert, und dann haben wir einfach angefragt. Dabei rechneten wir durchaus mit Schwierigkeiten, jüdische Chöre nach Deutschland und speziell Berlin einzuladen. Auch fast 70 Jahre nach der Shoa kommt es für viele Juden in der Welt nicht infrage, ins Land der Täter zu reisen. In der Praxis ist dieses Problem dann jedoch nicht aufgetreten. Wir erhielten bereits für das Auftakt-Festival mehr Interessenbekundungen, als wir berücksichtigen konnten.
Apropos „konzipiert“: Bevor wir nicht wussten, ob überhaupt jemand kommen würde, hatten wir gar kein Konzept. Wir haben unsere Anfragen nur mit der Idee, ein internationales synagogales Chor-Festival veranstalten zu wollen, rausgeschickt. Das führte dazu, dass ich eines Tages – im Verkehr auf der Stadtautobahn – einen Anruf mit einer mir sehr unbekannten Vorwahl auf meinem Handy hatte. Es war Evelyn Green, eine Chorleiterin aus Johannesburg, die – sehr nett – auf unsere Anfrage mit der Gegenfrage reagierte. „And what’s your program?“ Da habe ich dann, um uns nicht zu blamieren, eins aus dem Stehgreif skizziert. Halt so wie ich – also jemand ohne jede praktische Erfahrung – mir das vorstellen konnte: Eintreffen der Chöre am Donnerstagabend, Kennenlernzusammenkunft im Hotel; Eröffnungsveranstaltung mit allen Chören am Freitag, vor Beginn des Shabbat; nach dessen Ende, am Samstagabend, parallele Chorkonzerte an verschiedenen Orten der Stadt und schließlich – am Sonntag – ein gemeinsames Abschlusskonzert in einer großen Synagoge. Die Reaktion am anderen Ende der Leitung war ausgesprochen positiv, was mich veranlasste, nach Abschluss des Telefonats die erstbeste Gelegenheit zum Parken zu nutzen, um wenigstens zu notieren, was ich da gerade von mir gegeben hatte. Das wurde dann, mit minimalen Modifizierungen, genau das Programm, das wir seither fahren.
Inzwischen fragen wir zwar immer noch neue Chöre an, aber bereits für das zweite Festival erreichten uns etliche Bewerbungen von Ensembles – von Südafrika bis aus den USA –, und dieser Trend hält an.
Voraussetzung für eine Teilnahme war übrigens von Anfang an nicht, dass es sich um rein synagogale oder auch nur um jüdische Chöre handeln muss, sondern dass die Ensembles einen signifikanten Anteil an synagogaler Musik in ihrem Repertoire haben. Im letzten Jahr hatten wir zum Beispiel The Warsaw Singers zu Gast, dessen Mitglieder alle brave Katholiken sind – was zur Folge hatte, dass die Künstler noch am Abend nach dem Abschlusskonzert per Bus nach Warschau zurückfahren mussten. Der nächste Tag war nämlich Heiligabend, und da hatten sie alle zum Teil schon in den Frühmessen Auftritte zu absolvieren.

Einer der Schirmherren über das Festival ist Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit. Wie haben Sie den gewonnen?
Busch-Petersen: Ich fand, dass Berlins Regierungschef eine sehr gute Wahl wäre, um ein solches Festival mit aus der Taufe zu heben. Also fragte ich einfach den Kultursenator (Klaus Wowereit – Anmerkung der Redaktion), wen er für geeignet hielt. „Den Regierenden Bürgermeister“, lautete die Antwort. Den brauchte ich dann nicht mehr zu überzeugen … Eine zweite Schirmherrschaft hält der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde von Berlin, Herr Dr. Joffe, der diese Funktion von seiner Vorgängerin gern übernommen hat.

Welche unvorhergesehenen Probleme gab es auf dem Weg zum ersten Festival?
Busch-Petersen: Woran wir bei der Ideenfindung nicht im Entferntesten gedacht hatten, war der Sachverhalt, dass etwa orthodoxe und liberale Juden  religiös oft so uneinig sind, dass sie, überspitzt gesprochen, eher die Straßenseite wechseln, als etwas zusammen zu machen. Orthodoxe lehnen in der Regel nicht nur die Liturgie nach Lewandowski ab, sondern treten auch grundsätzlich nicht zusammen mit Frauen auf, und in Synagogen schon gar nicht. Vor dem ersten Festival gab es Auguren, die waren überzeugt, Orthodoxe und Liberale an einem Ort und dann noch zu Ehren Lewandowskis, des Paradebeispiels liberaler Synagogalmusik, zusammenbringen zu wollen, sei ein Ding der Unmöglichkeit. Nun – es war keines! Vielleicht war es auch nur noch nicht versucht worden, oder es lag mit daran, dass dem Hauptverantwortlichen die eigene jüdische Verwurzelung fehlt und er daher jeder Parteinahme in die eine oder andere Richtung a priori unverdächtig war. Religiös determinierte Vorgaben wurden den Chören natürlich nicht gemacht; es wurde aber auch kein Zweifel daran gelassen, dass etwa eine Verweigerung der Teilnahme am Abschlusskonzert mit Hinweis auf orthodoxe religiöse Regeln für dieses Festival nicht akzeptabel wäre. Auch das hat in der Praxis bisher nie eine Rolle gespielt, und beide Festivals verliefen in jeder Hinsicht sehr harmonisch. Mehr noch: Nach dem ersten Abschluss-Konzert nahm mich ein alter Herr aus der Zuhörerschaft zur Seite und sagte: „A Wunder is geschehen.“ Das fand ich etwas übertrieben und wiegelte ab: „Ja – es war ein sehr schönes Konzert.“ Doch er insistierte und erklärte, er habe im Vorfeld Informationen zu den Chören gegoogelt und dabei festgestellt, dass alle widerstreitenden Richtungen des Judentums vertreten seien, die üblicherweise ihre Gegensätze in den Mittelpunkt ihres Verhaltens zueinander stellen, und die wären nicht nur nach Berlin gekommen, sondern auch noch zusammen aufgetreten …
Eine richtige logistische Herausforderung tat sich allerdings auf, als für das erste Festival der erste orthodoxe Chor zugesagt hatte und damit klar wurde, dass wir nun für alle Teilnehmer durchgängig koschere Versorgung gewährleisten mussten. Zahlreiche liberale Juden halten sich zwar auch an grundsätzliche Regeln wie keine Schalentiere, kein Schweinefleisch, sind aber ansonsten oft von unseren hiesigen Zubereitungs- und Verzehrgewohnheiten nicht so weit entfernt. Nun aber: für 200 bis 300 Gäste koscher, denn strikt Orthodoxe hätten auch keine koschere Ecke auf einem ansonsten liberalen Buffet akzeptiert! In Städten wie New York, London oder Paris mit ihren großen jüdischen Gemeinden und einem entsprechenden Umfeld, also mit zertifizierten koscheren Anbietern im Lebensmittelhandel und in der Gastronomie, mag die Rundumverpflegung für Hunderte von Gästen an vier Tagen kein Problem sein. Aber Berlin hatte da nahezu nichts zu bieten. Man riet uns gar, alles fertig angerichtet aus den Niederlanden einfliegen zu lassen; das sei dann immer noch preiswerter, als einen solchen Kopfstand hier versuchen zu wollen. Wir haben es aber trotzdem geschafft, mit regionalen Partnern.

Welche künstlerischen Schwerpunkte setzten das erste und das zweite Festival, und was erwartet die Berliner und ihre Gäste in diesem Jahr?
Busch-Petersen: Das Auftakt-Festival war natürlich dem Leitstern der liberalen Synagogalmusik in Preußen und Deutschland gewidmet – Louis Lewandowski. Im zweiten Jahr stand das magische Komponisten-Dreigestirn dieser Musik aus dem 19. Jahrhundert im Mittelpunkt – wiederum Lewandowski, Berlin; dazu Salomon Sulzer, Wien, und Samuel Naumburg, Paris. Und in diesem Jahr haben wir das Motto „Zerrissenes Firmament“ gewählt, in Anlehnung an das Berliner Themenjahr „Zerstörte Vielfalt“. Das endet zwar offiziell am 9. November – aber wir setzen noch einen besonderen musikalischen Schlusspunkt. Denn die Vertreibung und Ermordung jüdischer Komponisten während der Shoa gehört zu jenen unersetzbaren Aspekten zerstörter Vielfalt in Deutschland, die bis heute nachwirken. Sterne am Komponistenhimmel erloschen, weil ihre Träger dem braunen Terror zum Opfer fielen – wie David Eisenstadt, der in Warschau gewirkt hat. Andere Sterne änderten ihren Standort am Firmament – durch Flucht von Komponisten ins Ausland. Daher „Zerrissenes Firmament“.
Dieses Spektrum ist jedoch so vielfältig, wie die Recherchen von Regina Yantian ergeben haben, dass wir uns zunächst auf Komponisten aus Deutschland, die umgekommen sind oder nach Palästina gingen, konzentrieren und uns im nächsten Jahr der großen Gruppe jener widmen wollen, die in die USA exilierten. Letztere entwickelten sich dann zu einer sehr eigenen Schule. Denken Sie nur an Kurt Weill.
Die künstlerischen Inhalte des Festivals werden im Übrigen mit dem inzwischen gebildeten Advisory Board beraten, für das wir führende Vertreter aus der Szene gewinnen konnten – Joshua Jacobson, den renommierten Chorleiter aus Boston; Professor Binyamin Glickman, der lange in Stanford gelehrt hat; Professor Eli Schleifer, von der Hebrew University Jerusalem und Professor Tina Frühauf aus New York.
An internationaler Beteiligung erwarten wir in diesem Jahr aus Breslau den Chor der Synagoge „Zum weißen Storch“, The Professional Choir of Belsize Square Synagogue  aus London, den Synagogenchor Basel sowie zwei Chöre aus Israel – The Upper Galilee Choir, ein gemischtes Ensemble, sowie The Zimratya Choir. Dessen Mitglieder in Synagogen als Kantoren arbeiten oder Gottesdienste leiten. Hinzu kommen der Leipziger Synagogalchor, der viele Jahre als einziger in der DDR die Tradition dieser Musik gepflegt hat, und das Synagogal Ensemble Berlin.

Beim ersten Festival gab es lauter Solokonzerte der einzelnen Chöre und ein gemeinsames Abschlusskonzert. Beim zweiten Durchgang wurden Doppelkonzerte mit jeweils zwei Chören durchgeführt. Warum der Wandel?
Busch-Petersen: 2011 hatten die Samstagkonzerte an sieben verschiedenen Orten parallel stattgefunden. Damit hatten wir uns nicht nur logistisch etwas überfordert, auch für die Gastchöre war das ein Wermutstropfen, wie sich hinterher herausstellte: Sie hatten so gar nichts Konzertantes voneinander gehört. Daher gingen wir 2012 zu Doppelkonzerten über – vor der Pause der erste Chor, danach der zweite, und beide Chöre können so den Auftritt des jeweils anderen ebenfalls erleben und daraus Anregungen mitnehmen. Bei dieser Form wollen wir bleiben.

Was hat Sie emotional am stärksten berührt bei den beiden bisherigen Festivals?
Busch-Petersen: In erster Linie die Begegnung mit all diesen Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen sowie mit ihrer Musik. Daneben gab es jedoch nicht bloß einen unvergesslichen Moment. Vom ersten Festival sind mir vor allem folgende in Erinnerung.
Meine Vorstellung hatte von Anfang an darin bestanden, dass alle Chöre auf dem Festival wenigstens zwei Lieder unmittelbar zusammen singen. Regina Yantian stimmte zu, verlangte aber eine vorherige Chorprobe. Nur wann? Die Zeit vor der Eröffnungsveranstaltung am Freitag war für Begleitprogramm verplant. Danach war Shabbat, und da läuft auch keine Chorprobe. Also blieb nur der Donnerstagabend, nach der Ankunft. Das hielt ich, nach teilweise 14 Stunden Flug, nach denen man üblicherweise knülle ist, für unzumutbar. Nun ist aber Regina Yantian ebenso klein wie hartnäckig, und so stellte sie sich am Empfangsabend im Hotelsaal auf einen Tisch, hob die Arme und etwa 200 Personen, die gerade anwesend waren, sangen – und zwar auf Anhieb „wie aus einem Guss“, wie ein einziger Chor! Das schuf sofort ein großartiges Zusammengehörigkeitsgefühl, auch zwischen Mitgliedern orthodoxer und liberaler Ensembles, das dann das gesamte Festival trug.
Am nächsten Morgen dann – Stadtrundfahrten für alle Chöre, die am Jüdischen Friedhof in Weißensee endeten. Das dortige gemeinsame Shoa-Gedenken – unser Kantor sprach ein Kaddish, sang ein El Mole – war sehr bewegend, machte sehr betroffen. Danach Besuch des dort an prominenter Stelle liegenden Ehrengrabes von Louis Lewandowski und seiner Frau. Ganz spontan – bei strömendem Regen – schmetterte ein Chor das Halleluja von Lewandowski, und alle anderen folgten mit weiteren Stücken des Meisters. Ein unvergesslicher Eindruck
Nach den Samstagkonzerten gab es für die Chöre einen „Tagesordnungspunkt“ surprise: Die Busse fuhren nicht zurück zum Hotel, sondern wir hatten die Kuppel des Fernsehturms für ein kleines Fest gemietet – mit koscherem Buffet. Der Fernsehturm mag für Berliner nicht Besonderes sein, aber der Blick aus der sich drehenden Kuppel auf die seinerzeit weihnachtlich-prächtig illuminierte Stadt begeisterte die Gäste. Nicht zuletzt auch, weil wir ihnen im Laufe der Umdrehung zum Beispiel zeigen konnten, wo die Synagoge Heidereuther Gasse gestanden hat, in der Lewandowski als Knabe sang. Und natürlich war die goldene Kuppel der Synagoge in der Oranienburger Straße zu sehen, die lange seine Wirkungsstätte war.
Schließlich das Abschluss-Konzert in der Synagoge in der Rykestraße: Als alle Chöre gemeinsam sangen, da war ein Klang, ein Hall, als schwinge das Mauerwerk mit.

Solche Momente gab es sicher auch beim Festival 2012 …
Busch-Petersen: Da hatten wir zum Beispiel Hans Bloemendal als Ehrengast, der 60 Jahre lang der Oberkantor von Amsterdam gewesen war. Dem wollten seine Kinder einen Konzertbesuch zum 90. Geburtstag schenken und fragten wegen Karten an. Wir haben entschieden, ihn mit seiner Frau zum gesamten Festival, auch zum Begleitprogramm, einzuladen. Bei der ersten abendlichen Zusammenkunft der Chöre wurde er natürlich erkannt und gebeten, selbst etwas zu singen. Und dieser bescheidene, freundliche Herr tat es – mit einem unglaublich kraftvollen Organ. Da blieb im Wortsinn keine Auge trocken! Nach dem Abschlusskonzert kam er dann noch kurz zu mir, bedankte sich. Es habe ihm sehr gut gefallen, und das Festival insgesamt sei auch ein ganz neues Erlebnis für ihn gewesen. Mit 90 Jahren? Da müsste man doch alles gesehen haben; also fragte ich: „Wieso?“ „Na ja, auf diese Weise habe ich zum ersten Mal in meinem Leben liberale Synagogen betreten.“
Ein lustiges Erlebnis, weil ich in Themen des Boulevards nicht so zu Hause bin, hatte ich im vergangenen Jahr. Da nahm unter anderem der Yakar-Chor aus Jerusalem teil; Leiterin: Nurith Cohn. Ihr Bruder Emanuel gehörte zu den Sängern des Chors. In der Pause eines der Samstag-Konzerte ergab sich eine zufällige Begegnung, bei der mir Emanuel – perfekt deutsch sprechend – seinen Vater vorstellte, der unter den Zuhörern war und der auch noch das Abschlusskonzert besuchen wollte. Was macht man in einem solchen Falle? Smalltalk. Am Abend nach dem Abschlusskonzert klingelte mein Telefon, am Apparat ein Manager eines meiner Verbandsmitglieder:
„Sagen Sie mal, Busch-Petersen, kann es sein, dass heute Arthur Cohn in der vierten Reihe saß?“
„Weiß ich jetzt nicht.“
„Na – Arthur Cohn!“
„Ach – der Papa von Nurith und Emanuel Cohn. Mit dem habe ich gestern kurz gesprochen …“
„Sie wissen nicht, wer das ist?“
„???“
„Der Filmproduzent hat mindestens sechs Oscars und ist eine lebende Legende.“
Na ja, manchmal schützt Unwissenheit auch – etwa vor Stottern aus zu viel Ehrfurcht.

Gibt es auch ein internationales Echo auf die bisherigen Festivals?
Busch-Petersen: In mehrfacher Hinsicht, und das freut uns besonders. Wir haben offenbar einen Stein ins Wasser geworfen, der Kreise weit über Berlin hinaus zieht – im Sinne der Veranstaltung übernationaler Chortreffen für jüdische Musik, die es zuvor nicht gab. Schon 2012 fand ein vergleichbarer, etwas kleinerer Versuch in London statt. Und erst vor kurzem ist das vom Wiener Jüdischen Chor sowie unter Schirmherrschaft des österreichischen Bundespräsidenten veranstaltete erste „European Jewish Choir Festival“ zu Ende gegangen.
Damit nicht genug: Am ersten Festival nahm ein junger Chorleiter aus Südafrika Adam H. Golding als privater Zuhörer teil, wo es bis dahin nur synagogale Männerchöre gab. Er reiste begeistert nach Hause zurück und gründete im Januar 2012 den ersten gemischten Chor, der im Dezember bereits am zweiten Festival teilnahm. Und wie heißt der Chor? The Lewandowski Choral!
Auch unser Berliner Ensemble erhält jetzt Einladungen aus Ländern, aus denen Chöre hier in Berlin teilgenommen haben – zum Beispiel aus Israel und aus Südafrika.
Nicht zuletzt die Image-Werbung für Berlin ist ein Aspekt, auf den wir stolz sind. Schon nach dem ersten Festival schrieb uns nach seiner Heimkehr der Chor aus Toronto: „Ihr habt 300 neue Botschafter für Berlin in die Welt geschickt.“ Wir wissen nicht zuletzt, dass das Berliner Festival ein Top-Thema in der gesamten Szene synagogaler Musik ist – weltweit, auch in Moskau, auch in Melbourne.

Ohne Sponsoren, wir sprachen bereits darüber, wäre die Idee eines solchen Festivals nicht umzusetzen gewesen. Berlin ist zwar sexy, aber arm – womit über die finanzielle Beteiligung der Stadt alles gesagt ist. Auf wie sicheren wirtschaftlichen Beinen steht das Projekt?
Busch-Petersen: Das Festival ist komplett nichtkommerziell, und das wird es auch bleiben. Trotzdem ist natürlich allein die Unterbringung und Beköstigung von sechs anreisenden Chören mit 250 bis 300 Personen ein Kostenfaktor, der durch Eintrittsgelder allein nur zum geringen Teil zu erwirtschaften ist – zumal wir nicht nur die kulturinteressierten Betuchten in der Stadt, sondern das breite Publikum ansprechen wollen. Daher sind unsere Tickets ausgesprochen bezahlbar. Der Rest muss über Spenden jedes Mal neu eingeworben werden, denn ein Hauptsponsor, der sich gleich für ein paar Jahre einbringt und die Grundfinanzierung sichert, fehlt bisher. Im ersten Jahr hatten wir am Ende eine Unterdeckung, die wir aber bereits 2012 wieder ausgleichen konnten. In diesem Jahr fehlen derzeit noch etwa zehn Prozent der benötigten Gelder, aber ich bin guter Hoffnung. Im Übrigen steht das kleine Team, das das Festival organisiert – Regina Yantian, Carolyn Naumann, die Büro- und Org-Sachen erledigt, sowie meine Wenigkeit, ständig auf der Kostenbremse : Wir arbeiten ohne Agentur und erledigen fast alles selbst. Allerdings – ohne ehrenamtliche Helfer, auf die wir uns stützen können, ginge es überhaupt nicht!

Und wenn der Festival-Direktor Nils Busch-Petersen träumt, wo tragen ihn seine Visionen dann hin?
Busch-Petersen: Ich möchte in erster Linie erreichen, dass das Festival ein dauerhafter Bestandteil des Berliner Kulturlebens wird. Dafür ist noch viel zu tun, aber wir arbeiten daran, und die immer breiter werdende Unterstützung macht uns Mut in dieser Hinsicht.
Ein zweiter Traum schließt unmittelbar daran an: Berlin wieder zu einem Zentrum, vielleicht zu dem Zentrum jüdisch-liturgischer Musik zu machen, das es einmal war – vor der Nazizeit. Dazu gehört natürlich mehr als ein Festival, aber es gibt hoffnungsvolle erste Schritte wie die Kooperation zwischen dem Abraham-Geiger-Kolleg der Universität Potsdam mit der Musikhochschule „Franz Liszt“ Weimar, an der inzwischen ein entsprechender Lehrstuhl existiert.
Und mein dritter Traum besteht darin, dass in wenigstens einer der Berliner Synagogen irgendwann wieder eine richtige Pfeifenorgel erklingt – der Würde des Ortes angemessen. Auch die Pestalozzistraße beherbergt ja nur einen unvollkommenen elektronischen Ersatz. Zur Erinnerung: Die Synagoge in der Oranienburger Straße beherbergte mit 94 Registern einmal die größte Synagogenorgel der Welt.

Das Gespräch für Das Blättchen führte Wolfgang Schwarz am 08. November 2013.