von Erhard Weinholz
Was macht man, wenn einem als Autor nichts mehr einfällt? – hatte ich mich vor vielen Jahren einmal gefragt. Man kann, fiel mir damals ein, über Autorenprobleme schreiben, über einen Autor, dem nichts mehr einfällt. Oder man geht auf Reisen. Man kann es auch kombinieren: ein Autor, dem nichts mehr einfällt, auf Reisen. Und zwar am besten zu den Stätten der Kindheit, wo dann, so lese ich gelegentlich, Verschüttetes oder, wenn der Autor schon älter ist, sogar lange Verschüttetes freigelegt wird.
Doch nicht aus diesem Grunde bin ich unlängst nach Binz gereist. Ich wollte mich nur erholen. Oder gibt es auch unbewusste Reisemotive? Jedenfalls war es keine Rückkehr an die Stätten meiner Kindheit; Rügen habe ich lange Zeit nur aus der Perspektive des GST-Lagers Breege-Juliusruh gekannt, wo wir Mitte der 60er Jahre in sackartigen Monturen durch den Sand hüpfen mussten. Immerhin habe ich im Lagerfunk zum ersten Mal die Beatles gehört. Damals und bis zum Ende der DDR war – dank Fähr- und Fischereihafen – Saßnitz größter, wichtigster und bekanntester Ort der Insel. Als Hafen ist er immer noch wichtig, doch größer ist heute die Kreisstadt Bergen, und wenn es in der Presse um Rügen geht, dann steht an erster Stelle Binz.
„Binz Sonne Wasser Wald“, heißt es auf einem alten Poststempel, und in der Stempelmitte strahlt eben diese Sonne einen Strandkorb an. Jetzt, Ende Oktober, war die Saison vorbei, Strandkörbe sah man kaum noch, aber die Sonne schien jeden Tag, zum Wald war es von meinem kleinen Hotel aus nicht weit und zum Wasser schon gar nicht. Es lag nämlich an der Strandpromenade, ein Drei-Sterne-Hotel mit Nullacht-Fünfzehn-Möblierung. Aber egal: Der Morgenkaffee schmeckte vorzüglich, und das Frühstücksbüfett war gut und abwechslungsreich bestückt. An Tageszeitungen wurde leider nur eine geboten, die Welt. „Wirtschaft entsetzt…“ – über irgendwelche Vorhaben der künftigen Koalition. Ein wichtiger Teil der Gesellschaft, in mancher Hinsicht sogar der wichtigste, ist entsetzt – das will schon was heißen. Weiter unten stellte sich heraus: Entsetzt waren die Unternehmer. Besteht die deutsche Wirtschaft nur aus Unternehmern? Nun gut, man musste das Blatt ja nicht lesen.
Schwieriger war es, mit dem umzugehen, was gerahmt an den Wänden hing. Augen zu und durch ging nicht, es war zu viel. Das meiste Acryl hollandaise, Seestücke, Stillleben, Dorfidyllen. Ich half mir auf meine Weise: Die neckische Szene in meinem Zimmer, zwei Kinder, die aus einem Töpfchen naschen, nicht mal Acryl, nur ein Druck, habe ich abgehängt, den Rest mit Tüchern verhüllt. Zudem war ich viel außer Haus. Zum Baden war es zu kalt, 12° C Wassertemperatur, aber für Spaziergänge war das Wetter ideal. Ich wanderte durch die Granitz nach Sellin, wo man in der Fischhalle preiswert essen kann, war am Schmachter See unterwegs und viel am Strand.
Den letzten Tag lief ich hinüber nach Prora. Das Meer, das bei meiner Ankunft kräftig gerauscht hatte, war ermattet und plätscherte nur noch. Hier und da das übliche Möwengeschrei. Eine Krähe stocherte ohne sonderlichen Eifer, mehr so pro forma, im fauligen Tang herum. Ein Stück vor der Küste fuhr ein Ausflugsschiff Richtung Kap Arkona. Man hörte die Stimme des Kapitäns; was er sagte, war nicht zu verstehen, aber wie er es tat – wahrscheinlich erzählte er das alles zum neunhundertdreiundsiebzigsten Male. In größeren Abständen sah man Menschen mit gesenktem Kopf direkt am Wasser dahinschleichen. Es waren aber keine depressiven Grübler, sondern Bernsteinsucher. Allerdings kann auch diese Suche deprimieren: Man findet wohl eher ein Goldstück auf dem Alex als Bernstein am Binzer Strand. Ich hielt die Augen trotzdem offen. Das meiste, was ich fand, war nicht bewahrenswert – die Badelatschen Marke Florida, das verrostete Feuerzeug. Anders dagegen die versteinerte Jagdwurstscheibe, die kurz hinter der Seebrücke im Sand steckte. Man konnte deutlich die kleinen Fettstücke erkennen, die typisch für die Sorte sind. Hatte ein Matrose mit den Worten „Ewich Jachtwurscht… wech mit den Schiet!“ die Scheibe über Bord gehen lassen? Oder war sie Teil einer Opfergabe gewesen? Es wird ein Rätsel bleiben. Nahebei lag eine versteinerte Nase. Dass sich Nasen selbständig machen können, weiß man seit bald 180 Jahren. Diese hier war ihrem Besitzer aber wohl eher im Eifer des Gefechts abhanden gekommen.
Das interessanteste Stück fand ich schließlich kurz vor Prora: einen versteinerten Radiergummi. So, wie Forscher aus wenigen Relikten auf die Gestalt unserer Vorfahren schließen können, lässt sich aus dieser Versteinerung eine einstige Gesellschaft rekonstruieren: Wo es Radiergummis gab, muss es auch Papier und Bleistift gegeben haben. Außerdem Tinte und Federhalter, denn die sind entwicklungsgeschichtlich älter als der Bleistift. Sie wiederum verweisen auf die Existenz von Akten und Aktenordner, also auch von Behörden: Schon vor 1.200 Jahren – denn so lange braucht ein Radiergummi nach neuesten Erkenntnissen, um durch und durch zu versteinern – kannte man hier an der Ostseeküste Finanzämter, Verwaltungsgerichte, eine Geheime Staatspolizei und dergleichen mehr. Wir halten all das für Errungenschaften der Neuzeit und schauen verächtlich auf das finstere Mittelalter zurück; sehr zu Unrecht, wie man sieht. Ich denke, im Heimatmuseum in Bergen wird man sich freuen über diesen Fund.
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