16. Jahrgang | Nummer 24 | 25. November 2013

Erlesenes

von Wolfgang Brauer

Nicht zuletzt in der Sparte Literaturkritik
gehörte Kurt Tucholsky zu den führenden Publizisten
seiner Zeit. „Auf dem Nachttisch“hieß die Rubrik
in der Weltbühne, in der er jeweils mehrere Bücher besprach.
Diese Tradition wollen wir in lockerer Reihenfolge,
mit wechselnden Autoren und mit Respekt
dem großen Vorbild gegenüber,
– also auch unter anderem Titel, –
wieder aufleben lassen.
Die Redaktion

Paul Marcus wurde 1901 in Beeskow geboren und starb 1972 in London. Paul Marcus’ Leben wurde zweimal binnen weniger Jahre auf eine glückliche Weise durch den Zufall gelenkt – die Römer nannten so etwas „Fatum“, was mehr als Schicksal bedeutet… –: 1926 schmiss der junge Mann den Bankiersberuf hin und sich selbst der etwas schmuddeligen Muse des Berliner Feuilletons an den Hals. Es dauerte nicht lange, und „Pem“ – mit diesem Kürzel zeichnete er in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre seine Texte für den Berliner Börsen-Courier – war in Berlin eine Instanz geworden, eine äußerst sachkundige dazu. Er schreibt für den Filmkurier und die Neue Berliner Zeitung – Das 12 Uhr Blatt. Pem schreibt nicht nur, er „macht“ Meinung. 1933 kann er dann den Nazis nach dem Reichstagsbrand gerade noch entwischen. Diesen spritzigen Journalisten hatten sie auf ihren Listen, zudem war er Jude und – er wusste einfach zu viel. Über den Hellseher Erik Jan Hanussen und den Berliner SA-Chef Graf Helldorf zum Beispiel.
Das kann man nachlesen in seinem Buch „Zwischen zwei Kriegen. Aus Berlins glanzvollsten Tagen“. Inka Bach hat es jetzt wieder herausgegeben. Der Titel ist hölzern, aber immer noch besser als Pems Original „Heimweh nach dem Kurfürstendamm“ (1952). Wer das Buch liest, merkt sehr schnell, dass auch der Autor das mit dem Glanz nicht ganz so wörtlich meint. Die „Goldenen Zwanziger“ waren dennoch in Berlin eine atemberaubende Zeit. Paul Marcus führt sie in seinem Buch im doppelten Wortsinne vor. Das Namensregister ist ein „Who is who“ von Kultur, Wissenschaft und Politik jener Jahre. Gelegentlich unterlaufen ihm Fehler: Mit dem Verhältnis der Kommunisten zu Heinrich Zille macht er es sich zu einfach, das war komplizierter. Maria Orska hat sich nicht im „Adlon“ erhängt, sie starb in Wien an einer Überdosis Veronal. Aber solches sehen wir Pem gerne nach. Er würde wohl heute Veronal und Strick nehmen, könnte er beispielsweise sehen, in welch traurigem Zustand Karlheinz Martins „Tribüne“ in Charlottenburg – das Uraufführungstheater Ernst Tollers! – vor sich hindämmert.
Wir bewundern dieses großartige Buch, das Inka Bach für uns dem Vergessen entriss und empfehlen es wärmstens!
Mit der Witwe von Paul Marcus hadern wir allerdings. Sie warf Pems Exil-Archiv nach dessen Ableben auf den Müll. Er hatte das eheliche Schlafzimmer damit zugestopft. Aber mehr noch müssen wir postumen Zorn auf alle empfinden, die davon wussten und Pems Versuche, das deutschsprachige Exil in der Bundesrepublik, die DDR mied er, wieder in das öffentliche Bewusstsein zu rücken, abblockten. Inka Bach zitiert in ihrem klugen Nachwort einen Brief des Verlegers Kurt Desch: „Vielleicht hat man Ihnen schon gesagt, dass Bücher über die ‚Emigration’ weder beim deutschen Buchhandel noch beim deutschen Publikum ankommen […]. Natürlich kommen noch verborgene Ressentiments hinzu.“
Übrigens verbirgt sich in Pems wundervollen Feuilletons – das sind die Kapitel seines Buches genau genommen – manch praktischer Lebenshilfe-Tipp. Er warnt vor Großaufnahmen im Kino: „Großaufnahmen erhellen den Zuschauerraum erheblich. Es hieß vorsichtig sein, wenn unsere junge Liebe zu stürmisch wurde.“
Paul Marcus: Zwischen zwei Kriegen. Aus Berlins glanzvollsten Tagen und Nächten, Transit Buchverlag GmbH, Berlin 2013, 190 Seiten, 19,80 Euro.

Ein gutes Interview zu führen, ist die Hohe Schule für Journalisten. Die wirklich guten sind rar. Zu groß ist die Verführung nachzuweisen, was man selbst für ein kluges Kerlchen… zu groß die Gefahr, sich zum Sprachrohr eines cleveren Interviewpartners machen zu lassen. Noch gefährlicher wird es, wenn das Ganze zwischen zwei Buchdeckeln als „Gespräch“ getarnt daher kommt. Politiker machen so etwas gerne in Wahlkampfzeiten.
Es gibt aber inzwischen eine ganze Buchreihe, die eine wohltuende Ausnahme darstellt. Hinter ihr stecken drei Feuilleton-Redakteure der Zeitung Neues Deutschland, die die seltene Kunst beherrschen, sich ganz auf einen Künstler einlassen zu können – ohne ihm zum Munde zu reden.
An dieser Stelle sei ein Buch empfohlen, für das Karlen Vesper verantwortlich zeichnet. Über mehrere Monate hinweg traf sie sich regelmäßig mit dem Maler Ronald Paris in dessen Atelier in Rangsdorf bei Berlin. Herausgekommen ist ein Buch, das allen nahe zu legen ist, die mehr wissen wollen über diesen begnadeten Künstler, über die Kunstverhältnisse in der DDR und ihre häufig zu Unrecht in die Vergessenheit gedrückten Protagonisten – aber auch über die der neuen Bundesrepublik. Paris nimmt kein Blatt vor den Mund über das mindestens seit dem antiken Bildhauer Phidias immer spannungsgeladene Verhältnis von Kunst und Politik. „Künstler verstanden sich allzeit als kritische Zeitgenossen“, sagt der Maler. „Nach der Erfahrung mit den Bilderwelten des Ronald Paris und den Gesprächen mit dem Künstler weiß ich, was Realismus meint: Es genügt nicht zu sehen, wie die wirklichen Dinge und Verhältnisse sind, sondern wie die Dinge und Verhältnisse wirklich sind.“ Das sagt die Autorin, ihre Gespräche mit Paris resümierend. Manchmal möchte man sich in ein Gespräch einmischen. Ein gutes Zeichen für die Qualität eines Textes finde ich.
Karlen Vesper: Ronald Paris. Wahr und wahrhaftig, Das Neue Berlin, Berlin 2012, 248 Seiten, 18,95 Euro.

Franz Chales (sic! – Schreibfehler eines preußischen Standesbeamten) de Beaulieu wurde 1913 in Bremen geboren und starb als François de Beaulieu in der Bretagne. Beaulieu entstammte einer Hugenottenfamilie, die den Aufstieg in das bremische Patriziat schaffte, der Vater fiel im Ersten Weltkrieg – er selbst studierte Theologie. Am 1. September 1939 sollte er ein Vikariat in einer Berliner Gemeinde antreten. Stattdessen wartete die schwere Artillerie auf ihn – aufgrund eines weit reichenden Geflechts familiärer Beziehungen konnte er allerdings vom „Feld der Ehre“ zum Generalstab in Zossen, konkret in die Abteilung „Fremde Heere West“, wechseln. Ihm hier zugängliche Dokumente über die Shoah reichte er weiter, wurde gefasst und vor das Kriegsgericht gestellt. Er hatte „Glück“, nach siebenmonatiger Gefängnishaft erwartete ihn ein Strafbataillon. Anfang Mai 1945 in Österreich in amerikanische Gefangenschaft geraten, konnte er sich nach Frankreich absetzen – François de Beaulieu, der Name wurde in Frankreich standesamtlich korrigiert, blieb im Lande, heiratete dort und wurde 1947 auch rechtlich Franzose. Beaulieu wurde 1948 Pfarrer der lutherischen Kirche in Frankreich; angestellt wurde er schließlich von der reformierten Kirche in Elsass-Lothringen. Sein Versuch, ein Pfarramt in der deutschen Gemeinde in Paris zu übernehmen scheiterte Ende der vierziger Jahre übrigens an Martin Niemöller, der damals das Außenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland leitete: „In meinen Augen haben sie ihr Vaterland verraten.“ Auch das war Niemöller. Das hinderte François de Beaulieu mitnichten, bis an sein Lebensende für ein freundschaftliches Zusammenleben von Deutschen und Franzosen aktiv einzutreten. Dass die berüchtigte „Erbfeindschaft“ als (hoffentlich!) überwunden gelten darf, ist zuvörderst Menschen wie diesem aufrechten Pastoren zu danken.
Erzählt wird dessen spannender Lebenslauf „zwischen allen Stühlen“ von seinem Sohn François de Beaulieu – er trägt den Namen des Vaters. Sein Buch erschien erstmals 2008 unter dem Titel „Mon père, Hitler et moi“ in Rennes. Übersetzt und im Donat-Verlag herausgegeben hat es Karl Holl. Holl verzichtete auf jeden Eingriff in den Originaltext, darüber kann man streiten. Entstanden ist dennoch ein geistig äußerst anregendes Buch, das aus einer sehr individuellen Sicht heraus die mörderische deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts erlebbar macht und vor dem Leser die Frage nach der persönlichen Mitverantwortung für das Handeln des eigenen Volkes gerade auch in finsteren Zeiten aufwirft. Solche Bücher sind heute nötiger denn je.
François de Beaulieu: Mein Vater, Hitler und ich, Donat Verlag, Bremen 2013, 240 Seiten, 14,80 Euro.