von Arno Klönne
Die klassische deutsche Jugendbewegung ist jetzt noch einmal ins Blickfeld der Publizistik geraten, ein Jubiläum steht an: Vor einhundert Jahren trafen sich auf dem nordhessischen Meißner ein paar tausend junge Leute zum „Freideutschen Jugendtag“, zur ersten Präsentation eines Anspruchs auf „Jugendautonomie“, auf selbstbestimmtes Leben und Denken in jugendlichen Gruppen. Die Formen dafür hatte seit der Jahrhundertwende der „Wandervogel“ entwickelt, mit einer jugendkulturellen Erfindung sozusagen: Junge Leute entzogen sich mit ihren „Fahrten“ am Wochenende und in den Ferien oder in ihren „Nestern“ und „Heimabenden“ zeitweilig in kleinen Gemeinschaften der Kontrolle von Elternhaus, Schule und staatlicher oder verbandlicher „Jugendpflege“.
Heute mutet das nicht aufregend an; damals steckte etwas Kulturrevolutionäres darin, zunächst für Jugendliche aus den bürgerlichen Schichten. Nach 1918 breitete sich dieser Gruppenstil auch in der organisierten Arbeiterjugend aus, konfessionelle Jugendverbände übernahmen ihn, die Pfadfinder wurden „bündisch“, in der Weimarer Republik wurde es kulturell modisch, „jugendbewegt“ zu sein.
Was bedeutete diese jugendliche Erlebniswelt für die darin Heranwachsenden, welche Mentalitäten und ideellen Angebote verbanden sich damit, wie wirkte sich Sozialisation in der Jugendbewegung in den späteren Lebenswegen aus? Dieser Frage geht ein voluminöser Sammelband nach, herausgegeben von der Historikerin Barbara Stambolis, mit 61 biographischen Skizzen über „Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens mit jugendbewegter Prägung“. Die Auswahl reicht unter anderem von Siegfried Bernfeld über Walter Dirks, Helmut Gollwitzer, Manfred Hausmann, Werner Heisenberg, Ernst Jünger, Robert Jungk, Alfred Kurella, Adolf Reichwein, Carlo Schmid, Peter Suhrkamp bis zu Friedrich Wolf.
Am Beginn des Buches stehen, das Alphabet hat es so gewollt, gleich nacheinander Essays über Wolfgang Abendroth und Otto Abetz, beide einstige Jugendbündler – der eine dann zur Zeit des Dritten Reiches im Widerstand und im Zuchthaus, aus der „Bewährungseinheit“ übergegangen zu den griechischen Partisanen, der andere Hitlers Botschafter für das unterworfene Frankreich, mitverantwortlich auch für die Deportation der jüdischen Bevölkerung.
Damit ist ein Grundproblem der Geschichte deutscher Jugendbewegung bewusst gemacht: Gemeinsame jugendkulturelle Erfahrungen hatten keineswegs übereinstimmende gesellschaftliche und politische Leitbilder zur Folge. Dies hatte sich schon beim Meißnertreffen 1913 angedeutet. Das verstand sich als Alternativauftritt zur hurrapatriotischen Einweihung des Denkmals für die „Völkerschlacht“ 1813 bei Leipzig, und der Reformpädagoge Gustav Wyneken warnte dort als einer der Redner vor kriegerischer „Phrasenuniformierung“, trat für Völkerverständigung ein; aber es regten sich auch schon „völkische“ und antisemitische Stimmen.
In der Weimarer Republik breiteten sich in vielen bürgerlichen Jugendbünden antidemokratische und nationalistische Emotionen und Ideologien aus, eine „Konservative Revolution“ wurde erhofft, der Langemarck-Mythos wurde gepflegt. Aus diesem Milieu kamen zahlreiche intellektuelle Diener des Dritten Reiches, und die Hitler-Jugend nutzte nach 1933 jugendbewegte Vorarbeiten. Sie unterdrückte jedoch jede jugendbündische Konkurrenz; ab 1936 verkündete sie, auf dem Wege zur „Jugenddienstpflicht“, das „Ende der Jugendbewegung“.
In dem hier angezeigten Sammelband fehlt es nicht an Belegen für diese „dunkle Seite“ (Christian Niemeyer) in der Geschichte der Jugendbewegung; historisch erhellend hätte es sein können, einige Lebensläufe einzubeziehen, die sich direkt mit dem Übergang von bürgerlich-bündischem Jugendleben zur NS-Staatsjugendorganisation oder auch zu den „kämpferischen Eliten“ des Dritten Reiches verbanden. Andererseits: Von jugendbewegten Überlieferungen waren auch jene keineswegs seltenen „bündischen Umtriebe“ geprägt, die von Gestapo und Justiz im Dritten Reich als „staatsgefährdend“ verfolgt wurden. Lebensgeschichtlich allerdings ergab sich daraus keine „Prominenz“, nach 1945 mochten westdeutsche wie ostdeutsche Historiker lange Zeit hindurch von solcherart Resistenz keine Notiz nehmen.
Eine deutliche Schwäche hat das Buch: 60 der 61 biographischen Skizzen gelten dem männlichen Geschlecht. Nun ist es nicht so, als spiegele sich in diesem Zahlenverhältnis der Anteil von Mädchen und jungen Frauen an der historischen jugendbewegten Realität wider. Männerbündische Eiferer in der Jugendbewegung haben dafür gesorgt, dass in deren publizistischen Zeugnissen weibliche Gruppen zu kurz kamen, und diese Gewohnheit hat ihre Spuren in den Archiven und in der Historiographie hinterlassen. Barbara Stambolis selbst weist in ihrer Einleitung auf dieses Missverhältnis hin, sie bedauert, dass zum Beispiel kein Essay über die jugendbewegte Herkunft von Margarete Buber-Neumann einzuwerben war. Da füge ich eine persönliche Erinnerung an: „Ich hätte das nicht ausgehalten, nicht das Lager unter Stalin, nicht das unter Hitler“, hat diese mir einmal gesagt, „ohne das Träumen von meinen Wandervogelzeiten“.
Barbara Stambolis ( Herausgeberin): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen. Reihe Formen der Erinnerung, Band 52, V & R unipress, Göttingen 2013, 819 Seiten, 74,90 Euro.
Prof. Dr. Arno Klönne, Jahrgang 1931, in der Restgeschichte von Jugendbewegung sozialisiert, Autor von „Jugend im Dritten Reich. Die Hitlerjugend und ihre Gegner“ (PapyRossa Verlag Köln) und „Es begann 1913. Jugendbewegung in der deutschen Geschichte“ (Landeszentrale für politische Bildung Thüringen). Einer der Sprecher der Ostermarschkampagne, Mitbegründer des Sozialistischen Büros und der Zeitschrift links, heute Mitherausgeber der Zweiwochenschrift Ossietzky.
Schlagwörter: Arno Klönne, Hoher Meißner, Jugendbewegung, Ossietzky