von Arn Strohmeyer
Die israelische Politik der Besetzung palästinensischer Gebiete und der dortige Bau ständig neuer Siedlungen sind schon lange in der Kritik, und die Zahl der Kritiker nimmt zu, die sagen: Diese Politik gefährdet inzwischen die Existenz des Staates Israel und obendrein den Weltfrieden. Amerikanische Geheimdienste haben unter der Federführung des CIA im Auftrag der amerikanischen Regierung eine Studie über die Zukunftsaussichten Israels erstellt und kamen dabei zu dem Ergebnis: Wenn Israel diese Politik fortsetzt, wird es diesen Staat in 20 Jahren nicht mehr geben. Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger – ein Jude und großer Freund Israels – widersprach heftig: Er gäbe Israel keine zehn Jahre mehr. Der israelische Historiker Moshe Zuckermann von der Universität Tel Aviv stellte fest, dass die materielle wie ideologische Selbsteinmauerung Israels mit dem Gefühl vieler Israelis korrespondiere, dass sie sich ihrer Zukunft nicht mehr sicher sein dürften – nicht wegen einer Bedrohung von Seiten des Iran, sondern „weil jeder Israeli letztlich weiß oder zumindest ahnt, dass Israel ohne Frieden in der Region kaum wird überleben und weiter existieren können“.
Der israelische Historiker Gershom Gorenberg hat gerade ein Buch herausgebracht, das auch in Deutschland erschienen ist. Es trägt den Titel: „Israel schafft sich ab“. Dieser Satz kommentiert sich selbst. Der kürzlich verstorbene israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk hat in einem kleinen Text seinen „letzten Willen“ niedergeschrieben. Was Israels Zukunft angeht, war er völlig mutlos und pessimistisch. „Ich verabschiede mich von Israel, denn es existiert nicht mehr… Unser kleiner Staat wird verschwinden … Wir werden zu Grunde gehen mit wenig Würde und mit gebrochenen Flügeln.“
Man könnte noch weitere solche Zitate anführen, die alle von Israelis oder Freunden dieses Staates stammen, also nicht von Gegnern oder Feinden. Das Paradoxe dabei ist: Wer die Lage Israels realistisch sieht und eine solche Kritik offen ausspricht, wird als „selbsthassender Jude“ oder als „Antisemit“ denunziert. Die Freunde und Anhänger Israels billigen oder rechtfertigen alles, was dieser Staat tut, und erweisen ihm damit einen Bärendienst. Sie bringen ihn noch mehr in Gefahr – eine wahrlich äußerst widersprüchliche Situation!
Wie ist es zu dieser für Israel gefährlich Lage gekommen? Um diese Frage beantworten zu können, muss man die Geschichte des Nahen Ostens zu Rate ziehen. Die heutige brisante Situation war lange vorhersehbar. Israel als die absolut stärkere der beiden Seiten in diesem völlig asymmetrischen Konflikt hätte sie durch eine kluge und vorausschauende Politik abwenden können, wenn es nur gewollt hätte. Aber das ist nicht geschehen.
Belegt werden diese Einschätzungen durch die Arbeiten einer Generation von jungen Historikern in Israel, der sogenannten „neuen Historiker“, bei denen zwei Faktoren zusammenkommen: Erstens hat Israel nach vielen Jahren teilweise wichtige Dokumente in den Archiven freigegeben, die diese Historiker nutzen können, und zweitens haben diese Historiker keine Scheu, die zionistische Staatsideologie in Frage zu stellen. Denn man darf nicht vergessen: Israel ist ein Weltanschauungsstaat mit einer Staatsideologie – eben dem Zionismus. Man kann ihn so definieren: Er ist ein Siedlerkolonialismus, der sich als jüdischer Nationalismus versteht und im Kern das Ziel hat, sich das palästinensische Land anzueignen, was aber nur durch Vertreibung, Enteignung und Entrechtung der palästinensischen Bevölkerung möglich ist.
Die „neuen Historiker“ sagen nun, dass die zionistische Darstellung der jüdischen Geschichte hauptsächlich aus Mythen besteht. Und Mythen sind Erfindungen von Menschen – Konstrukte, die zu ganz bestimmten Zwecken, hier politischen Zwecken, instrumentalisiert werden. Sie bestimmen aber ganz wesentlich die israelische Politik mit. Die „neuen Historiker“ führen weiter an: Wenn wir keine Klarheit über die wirklichen Geschehnisse haben (also das, was wirklich passiert ist), kann es keinen Frieden zwischen den gegnerischen Seiten geben. Andererseits sind diese Mythen aber für die Zionisten von zentraler Bedeutung, weil sie die Funktion haben, den Anspruch auf das Land zu begründen.
Solche Mythen sind etwa, dass Gott den Juden das Land zugesagt habe, dass es ein großes und mächtiges Königreich unter den Herrschern Salomon und Saul gegeben habe, dass die Juden um 70 nach Christus von den Römern aus ihrem Land vertrieben worden seien und dass ihre Geschichte im Exil ein einziges Leiden gewesen sei. Die Wahrheit ist aber: Es hat viele Jahrhunderte gegeben, in denen Christen, Moslems und Juden in friedlicher Ko-Existenz miteinander lebten. Die Juden der Welt stammen auch keineswegs alle aus dem „Heiligen Land“ und sind nach Jahrhunderten der Diaspora – ab 1880 – wieder dorthin zurückgekehrt, wie die Zionisten behaupten, sondern die Juden haben, wie alle anderen Religionen, zunächst missioniert und bekehrt. Erst als das Christentum Staatsreligion im römischen Reich wurde, untersagte man ihnen das. Der israelische Historiker Shlomo Sand hat die Belege für diese Thesen in seinem Buch „Die Erfindung des jüdischen Volkes“ ausführlich und überzeugend dargelegt.
Ein moderner Mythos ist es, dass die Zionisten von Anfang an den Arabern und besonders den Palästinensern die Hand zum Frieden gereicht hätten. Die „neuen Historiker“ haben belegt, dass die Palästinenser 1947/48 keineswegs freiwillig ihre Heimat verlassen haben, sondern dass die Zionisten sie mit einer grausamen ethnischen Säuberung vertrieben haben – insgesamt 700.000 Palästinenser, die Hälfte dieses Volkes. Nach dem Sieg über die Araber im Krieg von 1948 waren die Zionisten auch keineswegs zum Frieden mit ihren Nachbarn bereit, sondern setzten ausschließlich auf militärische Stärke und weitere Eroberungen und Expansionen. Der Israeli Jeff Halper hat es auf eine Formel gebracht, die bis heute gilt: „Israel strebt in der nahöstlichen Region die Herrschaft und die Vormachtstellung an, die aber nur unilateral und militärisch erreicht werden können. Verhandlungen erweisen sich damit als überflüssig und irrelevant.“ Mit anderen Worten: Israel hat kein Konzept für den Frieden, strebt ihn auch gar nicht an, es setzt ausschließlich auf sein starkes Militär und seine überlegenen Waffen (einschließlich seiner Atombomben) und ist mit dem jetzt erreichten Status quo zufrieden – weitere Expansionen nicht ausgeschlossen.
Eine solche Politik, die nicht den friedlichen Ausgleich mit den Nachbarn in der Region sucht, gefährdet aber die Existenz des jüdischen Staates, weil er ein isolierter Fremdkörper im Nahen Osten bleibt. Hinzu kommt: Politische Systeme, die ausschließlich auf absolute Sicherheit durch militärische Stärke und Überlegenheit über ihre Gegner setzen – darauf hat der Historiker Herfried Münkler hingewiesen – unterliegen der Gefahr zu kollabieren, weil sie ihre politische Flexibilität und Reaktionsfähigkeit verlieren. Sie drohen, an ihrer inneren Erstarrung und Immobilität zu scheitern. Das Ende der Sowjetunion dient hier als warnendes Beispiel. Sollten also die CIA, Henry Kissinger, Gershom Gorenberg, Yoram Kaniuk und viele andere Recht behalten?
Arn Strohmeyer, Jahrgang 1942, studierte Philosophie, Soziologie und Slawistik, ist Journalist und Autor mit den regionalen Schwerpunkten Griechenland und Naher Osten; er lebt in Bremen.
Ausführlicher behandelt hat der Autor dieses Thema in seinem jüngst erschienen Buch „Wer rettet Israel? Ein Staat am Scheideweg“, Selbstverlag, Bremen 2013, 275 Seiten, 16,00 Euro; zu beziehen über: arn.strohmeyer@web.de.
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Schlagwörter: Arn Strohmeyer, Israel