16. Jahrgang | Nummer 22 | 28. Oktober 2013

Heimspiele und Weltpremieren

von F.-B. Habel

Das traditionsreiche Neubrandenburger Dokumentarfilmfestival firmierte im Oktober zum 22. Mal als dokumentART, als ein Filmfest, das sowohl das Filmdokument als auch den künstlerisch experimentierenden Film aus zahlreichen Ländern der Welt in den Mittelpunkt rückt. Achtmal fand es gemeinsam mit einem Partner in Szczecin statt und genoss EU-Förderung. Die läuft mit diesem Jahr aus. Momentan wird ausgelotet, wie es im kommenden Jahr weitergehen kann. Vielleicht muss man dann auf die eine oder andere Nebenreihe verzichten, was sehr schade wäre. Besonders die Filme, die im Lande sozusagen als Heimspiele entstanden – sei es vom NDR oder von freien Produzenten – fanden das Interesse des Publikums.
Ohne Fernsehförderung kam beispielsweise der abendfüllende Film „Am Ende der Milchstraße“ aus, den Leopold Grün und Dirk Uhlig mit langem Atem innerhalb von drei Jahren drehten. Sie porträtieren einige Bewohner der 50-Seelen-Gemeinde Wischershausen (nicht allzu weit von Neubrandenburg entfernt) mit Liebe und Respekt. Der Film, dessen Arbeitstitel „Randland“ eigentlich treffender war, zeigt, wie einfache Leute seit den neunziger Jahren mehr und mehr vom sozialen Fortschritt abgetrennt leben. Viele haben keine Arbeit mehr in ihrem Beruf, verdingen sich für Naturalien, suchen ihr Heil nach dem Willen der Arbeitsagentur im Westen und sehnen sich zurück in ihr Dorf. Trotz allem Ungemach fühlen sie sich hier glücklich, wie die nicht mehr junge Cordula, deren Maxe der erste Mann in ihrem Leben ist, der ihr zeigt, dass er sie liebt. Oder Oli, der darüber philosophiert, wie Maschinen die Menschen ersetzen, besonders die ärmsten, die zu wenig in der Birne haben. Da wünscht sich ein Opa die Mauer zurück und betont, mit der SED nie was am Hut gehabt zu haben. Eine Sau erlebt zum ersten Mal Schnee und wird ein paar Minuten später geschlachtet, während ein Kälbchen, ein „Fötzchen“, wie der Bauer sagt, zur Welt kommt. Die Kamera ist immer beobachtend dabei. Ruhe und Mutterwitz hat der Film, ist kein bisschen geschwätzig und läuft seit wenigen Tagen in ausgewählten Programmkinos.
Auch im Wettbewerb fand man schöne Beobachtungen, etwa „De huid voelt“ (Die Haut fühlt). Der junge Niederländer Daan Bunnik filmt mit zärtlicher Kamera seine nackten Eltern und denkt dabei über Vergänglichkeit nach. Der Film gewann den Publikumspreis der Neubrandenburger.
Auch der Hauptpreisträger widmete sich diesem Thema. In „Maria“ zeigt der rumänische Regisseur Claudiu Mitcu eine familiäre Situation beim Sterben einer alten Frau. Familienangehörige und Freunde sitzen dabei und plaudern über Alltägliches. Die Meinungen dazu waren geteilt. Soll man das Sterben mit der Kamera begleiten? Erleichtert es den letzten Weg, wenn dabei ununterbrochen Triviales geredet wird? Wenn wir Zuschauer das beurteilen können, werden wir uns nicht mehr darüber austauschen.
Mit drei Filmen lag ein kleiner thematischer Schwerpunkt des Festivals auf China. Filmemacher aus Spanien, Frankreich und Taiwan rieben sich an Geschichte und Gegenwart der Volksrepublik: Verbrechen in der Kulturrevolution, Umweltschäden durch unsensible Urbanisierung. Mit „Chroniken von Trantor“ nach Motiven des Autors Isaac Asimov (eine Weltpremiere in Neubrandenburg) schuf der Franzose Jérôme Laniau ein bild- und tongewaltiges Werk über chinesische Familien, das in seiner Wucht beeindruckte, aber für die meisten Zuschauer schwer zu entschlüsseln war.
Leichter konsumierbar war Thomas Haleys Film „American Dreamer“, der mit dem Preis des Marschalls der Wojewodschaft Westpommern, dem zweiten Preis, geehrt wurde. Porträtiert wird der zur Zeit der Dreharbeiten in Florida lebende Sozialhilfeempfänger Julian, dessen wichtigster Lebensinhalt darin besteht, ein glühender Patriot zu sein. Julian besucht häufig den örtlichen Veteran´s Club, wo er selbstgereimte patriotische Gedichte vorträgt. Der Regisseur, der seit Jahrzehnten als erfolgreicher Fotograf in Paris lebt und hier sein Filmdebüt vorlegte, begleitete seinen Protagonisten zu den Gedenkfeiern des 11. September nach New York. Unterstützer der stockkonservativen „Tea Party“, zu der sich Julian hingezogen fühlt, und Anhänger der Verschwörungstheorien stehen sich hier gegenüber. Haley trägt mit seinem in Neubrandenburg viel diskutierten Film dazu bei, dass man die Mentalität einfacher weißer US-Bürger besser versteht. Schade nur, dass das einheimische studentische Publikum nicht stärker vertreten war.