von Franz Zauleck
Es war einmal ein Maler. Den nannten alle Sigmar Polke. Eines schönen Tages – es muss ein Herbsttag wie dieser gewesen sein – betrat der Maler das Atelier.
Er schaltete das Licht ein, streifte den Malerkittel über, legte Pinsel, Tuben und Schablonen zurecht und betrachtete vergnügt seine Studien und Skizzen.
Er trat vor die Staffelei. – Und dann geschah etwas Außergewöhnliches.
Sigmar Polke hat es selbst erzählt: „Ich stand vor der Leinwand und wollte einen Blumenstrauß malen. Da erhielt ich von höheren Wesen den Befehl: Keinen Blumenstrauß! Flamingos malen! Erst wollte ich weitermalen, doch dann wusste ich, dass sie es ernst meinten.“
Da uns der Begriff „Höhere Wesen“ seit zweihundert Jahren abhanden gekommen ist, nennen wir sie statt dessen gern und etwas verschämt Affekte. Verschämt deshalb, weil Affekte schließlich unablässig die Effizienz der gut geölten Wertschöpfungsmaschine stören. die Sehnsucht und die Entrückung, die Neugier und der Überdruss irritieren den Fluss der bürgerlichen Reproduktion. Alle Mächte haben sich vereinigt, die Affekte mit hoch wirksamen Mitteln und endgültig aus dem Haus zu jagen. Zeigt sich irgendwo noch ein Affekt, wird er mit Versprechungen und Duftstoffen, mit Botox und Konsumgeschossen wie ein Gottseibeiuns verjagt.
Über dem Künstler aber – wir nennen ihn immer noch Sigmar Polke – dürfen und müssen die höheren Wesen schweben: der Hass, die Liebe und der Zweifel, Und der Flügelschlag des blauen Schmetterlings natürlich auch.
Die höheren Wesen folgen dem Künstler auf Schritt und Tritt. Sie lassen sich nicht abschütteln. Sie sind Fleisch von seinem Fleisch. Wenn er vor die Leinwand tritt, müssen sie dabei sein. Die höheren Wesen sind seine treuesten Gefährten. Die Kraft und die Schwäche, der Zweifel und die Verwirrung. Ohne die höheren Wesen kommt kein Bild zustande. Sie allein haben die Macht zu sagen: Keine Blumen! – Flamingos!
Auch in Hannelore Teutschs Atelier sind die höheren Wesen zuhause. Sonst sähen wir heute hier keine Bilder. Alles, was zum guten Ende so konturensicher und feinsinnig arrangiert erscheint, ist immer das Ergebnis des Widerstreits der höheren Wesen mit der Malerin, das Resultat der stummen Diskussionen und lautlosen Kämpfe in ihrem kleinen Atelier im Panketal.
Selbst das einsamste Werk ist immer ein kollektives. An diesen Bildern haben neben den höheren Wesen, viele Kollegen aus allen Zeiten mitgewirkt. Sie sind – so gesehen – auch so etwas wie höhere Wesen. Den verehrten Kollegen hat die Malerin den intimen Eid geleistet, sich deren verpflichtende Maßstäbe fleißig anzueignen und mit Leben zu erfüllen.
Ganz sicher ist Piero della Francesca einer dieser Paten, dessen Klarheit und vertrackte Einfachheit ihr immer vor Augen stehen. Aber auch Fra Angelico, der mit Gold und Blau Gott zum Sprechen bringt, und Giorgio de Chirico, der dunkle Mystagoge, sind in diese Phalanx einzureihen. Und James Ensor, der heitere Totentänzer und Magritte, der Äquilibrist des Traums kurz vor dem Erwachen.
Die Meisterträumerin Meret Oppenheim sagte: „Alle Gedanken, die je gedacht wurden, rollen um die Erde.“
Alle Gedanken! Sie sind nicht aus der Welt. Die guten, aber auch die bösen. Sie lösen sich nicht einfach so auf. Sie sind immer da. Sie springen in die Träume, ungefragt und tollkühn. Sie schlüpfen in die geringsten und in die erhabensten Dinge. Betrachte den Trichter, den Zwirnstern und den Granatapfel! Wenn du es intensiv tust, wirst du jahrhundertealte Gedanken darin sehen.
Alle Gedanken, die je gedacht wurden, rollen um die Erde. Unterschiedlich langsam. Unterschiedlich schnell. Sie rollen. Und mit ihnen rollen die Gegenstände und Wesen, in denen sie sich zeitweilig oder auch für länger niedergelassen haben. Am Grunde der Moldau wandern die Steine.
Ein Gedanke sitzt auf dem Kopfkissen der Malerin und flüstert ihr Sachen ins Ohr: Glaskugel, Kamm, Spiegel, Dreieck.
Die Künstlerin malt folgsam: Glaskugel, Kamm, Spiegel und Dreieck. Dass es ein Bild wird, darum wird sie sich kümmern müssen. Und sie kümmert sich: Sie verbindet die alltäglichen Dinge mithilfe einer einfachen Komposition, die aber die Raffinesse von Piero della Francesca geliehen hat. Eine anmutige haarflechtende Frauenfigur, die sich vom Betrachter abwendet, hebt die harmlosen Requisiten ins Arsenal der mythischen Zeichen.
Durch alle Bilder von Hannelore Teutsch geht immer so ein sonderbares Licht. Einmal ist es das Licht des gleißenden Mittags. Dann ist es das eisige Licht der mondblauen Nacht. Dann aber auch das neblig-müde Licht des Erwachens, das die Gegenstände und Figuren kühl und respektvoll umfließt.
Die Schatten, die sich selten – und wenn überhaupt, dann zaghaft – zeigen, scheinen vom Mondlicht herzurühren. Dieses Licht bringt, wie im Traum, das Bewegte zur Ruhe und, wie im Erwachen, das Ruhende in Bewegung. Alles ist in Stille getaucht.
Scheinbar mühelos bringt Hannelore Teutsch die brausende Weltmechanik zum Schweigen. Die Zauberin hebt die linke Hand und sagt den Dingen: Halt! Und sofort stehen sie still; die fallenden Äpfel und die stürzenden Mädchen, der Mond hinter den Birken, der Schatten am Tacheles, die Biegung in der Krausnickstraße. Alles scheint gefroren.
Hannelore Teutsch hält das Uhrpendel an.
So etwas kann, außer der dreizehnten Fee, nur die Malerin: mit einer Handbewegung den getriebenen und erregten Formen einen Dornröschenschlaf verordnen. Hundert Jahre Schlaf. Wäre das ein Rettungsvorschlag für die kranke Menschheit?
Diese Bilder schlagen in Bann. Wir können die Augen nicht abwenden. – Orpheus am Potsdamer Platz. – Wir dürfen uns nicht umsehen und tun es dennoch. Wir sind verloren.
Hannelore Teutsch träumt mit weit geöffneten Augen. Im Träumen schauen, das kann nicht einmal die Fee. Die Malerin sieht die Dinge eindringlich an. Sie kann die Augen nicht verschließen. Sie schaut das Gegenüber so lange an, bis es zurückblickt. Das ist der heilige Moment, den die höheren Wesen segnen.
Viele erwarten von der Kunst, was beispielsweise Geologen von einem Seismographen erwarten: Kunst habe die Erschütterungen der Welt präzise anzeigen. Diese landläufige Erwartung entspringt einem tief sitzenden Missverständnis. Kunst ist kein Instrument. Kunst ist nicht in der Lage die Welt objektiv abzubilden. Eine Malerin ist kein Spiegel. Der Auftrag der höheren Wesen lautet: Flamingos malen. Für verlässliche Messungen sind Maschinen da. Oder Rieseninstitute mit streng dreinblickenden Spezialisten.
Wenn Kunst überhaupt Erschütterungen anzeigt, dann die Erschütterungen, die durch den Künstler gehen. Im idealen Fall spiegelt die Erschütterung des Künstlers die Erschütterung der Welt.
Das engstirnige Wort „Kunst kommt von Können“ hat sehr viel Unheil angerichtet. Die Häme, die da mitschwingt, ist für den, der hören kann, vernehmbar. Der Naturalismus bildet – da sollten wir uns nicht täuschen lassen, weil wir gern unter uns sind – nach wie vor die Basis des breitesten Kunstbedürfnisses. Das zieht sich durch von ganz unten bis ganz oben. Die L’art-pour-l’art-Keule steht gut sichtbar immer noch griffbereit in der Ecke.
Das landläufige tödliche Kompliment „Wirklich toll! – Fast wie echt!“ macht die Verheerungen der letzten hundert Jahre anschaulich. Alles muss 3-D sein!
In diesem Fall ist Angriff die beste Verteidigung. Künstler wählen die Negation und vermelden trotzig und begründet: „Kunst kommt von So-nicht-können! Kunst kommt von Anders-können!“
„Wir verweigern“, sagen die Großen von Füssli bis Richter, „den Auftrag von außen. Warum sollen wir die Natur nachahmen, wenn es doch eine gibt? Wir werden eine andere Natur schaffen, eine Natur, die es noch nicht gibt. Nur das ist von Interesse. Etwas anderes können wir auch nicht.“ Nichts anderes hätten Piero della Francesca und Fra Angelico gesagt, wenn man sie gefragt hätte. Vielleicht nicht in dieser zornigen Vereinfachung – sie kannten ja noch nicht die seelischen Zerstörungen, die der Naturalismus und das industrielle Kitschbedürfnis anrichten würden.
Endlich betritt das Publikum den Saal. Die Bilder werden öffentlich. Das Publikum sieht Bilder, die es nicht bestellt hat. Das Publikum kreuzt die Arme. Eine erfahrene Malerin weiß, was jetzt kommt. Lob und Gleichgültigkeit, Begeisterung und Unverständnis gehen Hand in Hand.
Bilder sind Spiegel. Es sieht immer der hinaus, der hineinsieht.
Die Malerin kann Gleichgültigkeit nicht ernsthaft treffen. Sie ist hart gesotten. Sie kennt das Geschäft. Die Malerin braucht auch kein schales Lob. Davon hat sie genug. Die Malerin braucht dringend ein Gegenüber, das den Bildern aktiv schauend standhält.
Ein Bild existiert eigentlich gar nicht. Ein Bild ist ein paradoxes Phänomen.
Wir sehen das Material, den sorgfältig behandelten Malgrund. Wir sehen den temperamentvollen und den kontrollierten Farbauftrag. Wir sehen eine spezielle Struktur von Farbpigmenten. Wir riechen vielleicht den Firnis.
Aber wo ist das Bild? Das Bild beginnt sich zu regen, wenn das ernsthafte Zwiegespräch zwischen Betrachter und Bild beginnt. Die Malerin hat dieses Zwiegespräch schon durchlebt.
Jetzt und hier beginnt die eigentliche Karriere der Bilder. Sie müssen erkannt werden, damit sie aus den Pigmenten und dem Material hervortreten können.
So ein schöner Tag wie dieser macht das kostbare Wunder möglich: Die Betrachter machen die Bilder zu Bildern. Jeder einzelne macht sich die Bilder auf besondere – auf eigene – Weise zu eigen. In diesem Aneignungsprozess mischen die höheren Wesen kräftig mit. Es sind die gleichen Affekte, die im Atelier ihr Wesen trieben.
Die Geschichte von Sigmar Polke ist übrigens noch nicht zu Ende. Er berichtet von einem anderen Tag im Atelier: „Höhere Wesen befahlen: Rechte obere Ecke schwarz malen.“
Polke malte, wie befohlen, die rechte obere Ecke schwarz. Das Bild entstand 1969 und hängt jetzt in einer Privatsammlung irgendwo im Süddeutschen. Sein Titel lautet wirklich und wahrhaftig: „Höhere Wesen befahlen: Rechte obere Ecke schwarz malen.“
1969! Wenn wir das schwarze Dreieck lang genug ansehen, erkennen wir die gewaltige Schneide einer Guillotine, die jeden Moment herabsausen kann. Die Aufträge der höheren Wesen zielen haarscharf ins Schwarze. Ob sie treffen, das müssen die Künstler entscheiden.
Laudatio zur Eröffnung der Ausstellung „Hannelore Teutsch: Grüner Kamm und Blauer Mond“ am 21. September 2013, Burg Beeskow (bis 12. Januar 2014; Dienstag bis Sonntag, 11.00 Uhr bis 17.00 Uhr); redaktionell gekürzt.
Schlagwörter: Beeskow, Franz Zauleck, Hannelore Teutsch, Kunst, Sigmar Polke