von Klaus Hammer
Das „Frühstücksgedeck mit Pelz“ (1936), eines der eindringlichsten surrealistischen Objekte, das auch heute noch nichts von ihrer Wirkung verloren hat, ist zur Retrospektive Meret Oppenheim nicht mit nach Berlin gekommen.
Meret Oppenheim, 1913 in Berlin geboren, war 18, als sie nach Paris ging, sich den Surrealisten anschloss und deren junge Fee wurde. Als sie ein mit Pelz beklebtes Metallrohr als Armband trug, soll Picasso eingeworfen haben, man könne eigentlich alles mit Pelz überziehen, worauf Meret ihm erwiderte: „Auch diesen Teller und die Tasse…“ Für eine Ausstellung surrealistischer Objekte hatte sie eine große Tasse mit Teller und Löffel mit Gazellenfell überzogen und Alfred Barr jr. sollte sie dann später für die Sammlung des damals noch jungen Museums of Modern Art in New York erwerben. In der Folgezeit wurde die „Pelztasse“ eines der meistzitierten und abgebildeten Werke des Surrealismus, es führte ein langes, geheimes Leben als sexuelles Symbol, während der Name ihrer Schöpferin in Vergessenheit geraten zu sein schien. Die junge Meret hätte damals, von ihrem Markenzeichen profitierend, „Überziehkünstlerin“ werden können. Doch sie zog es vor, weiter ohne „Fallnetz“ auf ihre Art zu arbeiten und einer Schlange gleich immer wieder ihre Haut zu wechseln. Erst in den 1970er Jahren wurde einer breiteren Öffentlichkeit bewusst, welch ein bedeutendes Werk sie geschaffen hatte.
Aber auch ohne die berühmte „Pelztasse“ ist diese Berliner Retrospektive, die nun zum 100. Geburtstag im Martin-Gropius-Bau stattfindet, überwältigend in der Breite und Fülle eines Werkes, das nicht eine Person, sondern mehrere gleichzeitig geschaffen zu haben scheinen. „Mein Stil ist, dass kein Bild dem anderen gleicht.“ Welche Vielfalt der Themenkreise: Keimendes – Wachsendes, Gelebtes – Erträumtes, Sonne – Mond – Sterne, Himmel – Wolken, Geister – Kobolde, die Schlange, Personifizierungen, Kleinkreaturen. Unter- und übergelegte Schraffuren, Einbeziehen von Assoziationen, die die von ihr verwendeten Materialien auszulösen vermögen. Ein ebenso reiche Vielfalt der Werkformen: Zeichnung, Collage, Assemblage, Relief, modellierte, konstruierte, gehauene Skulptur, Objekt unter Einbezug des objet trouvé, Multiples, Malerei, auch Formen, die überhaupt nicht einzuordnen sind, schließlich Sprache von der Poesie der Werktitel bis zu eigener Prosa und Poesie. Nicht alles ist ihr als Ausdruck einer eigenen Formensprache gelungen. Doch gibt es höchst signifikante Beispiele poetischer Umsetzung von Relikten der Wirklichkeit in eine Welt der Imagination. Meret Oppenheim lässt sich keiner Richtung zuordnen – auch von den Surrealisten hat sie sich bald wieder abgewandt –, schöpfte aus dem Unterbewusstsein, aus Träumen, wollte immer frei und unabhängig sein.
Die Kunst mehr als eines halben Jahrhunderts – etwa 200 Arbeiten aus allen Schaffensperioden – zeigt die Ausstellung. Vom „Schulheft“ der Sechzehnjährigen, in das sie 1930 die skurrile Gleichung „x = Hase“ eingetragen und ihrem Vater geschenkt hatte, „um ihm meine Begabung in Mathematik zu zeigen“, bis zur Halskette „Husch, husch“ aus dem Todesjahr 1985. Die Fotos von Man Ray, des damals gefragtesten Fotografen, aus dem Jahre 1933 haben zum Mythos der Künstlerin beigetragen. Die junge Meret Oppenheim mit geschwärzten Händen und Armen am Rad der Druckerpresse. Das Rad fungiert als Buchstabe, der den nackten weiblichen Körper einrahmt. So wird ein Körperbuchstabe ausgestellt. Oppenheim hat Objekte wie ihren berühmten Tisch mit Vogelfüßen (1939), viele surrealistische Multiples und ein eindrucksvolles grafisches Oeuvre geschaffen. Doch ihrer Glorifizierung als Muse der Surrealisten war bald eine persönliche und künstlerische Krise gefolgt, die nach ihren eigenen Angaben bis 1954 andauern sollte. 1938 – sie war ein Jahr zuvor in die Schweiz zurückgekehrt – malte sie das Bild „Die Steinfrau“, die diese bleierne Lähmung aller Lebensenergien zum Ausdruck bringt. Ist es Man Rays Fotografie der „Schwimmerin“ Meret Oppenheim, die, ans Land gespült, versteinerte? Ihre Füße im Wasser sind die einzigen Zeichen von Leben und Überleben.
Dass sie dann ihre jahrelange Schaffenskrise überwunden hat, demonstriert ihr mehrteiliges Ensemble „Bon appetit, Marcel! (Die weiße Königin)“ (1966/1978): Eine gebackene Dame-Figur liegt, von Gabel und Messer flankiert, auf einem Schachbrett aus Wachstuch verzehrfertig bereit. Aber das aus der Wirbelsäule eines Rebhuhns bestehende Rückgrat der Dame, dieser Herrscherin des Schachspiels, lässt sich nicht so ohne weiteres brechen. Drei Jahre vor der Annahme des politischen Stimmrechts für Frauen in der Schweiz hat Meret Oppenheim mit dem „Abendkleid mit Büstenhalter-Collier“ (1968) einen Frauenkörper sadistisch hergerichtet: Eine Schaufensterpuppe, bei der Strumpfhalterklammern an den Brustwarzen befestigt sind, offenbart uns die Abgründe sexueller Gewaltphantasien.
Alltägliche Gegenstände sind wie biomorphe Wesen gezeichnet. Die nur angedeuteten Formen erscheinen aufgrund ihrer assoziativen Körperhaftigkeit wie virtuelle Skulpturen mit menschlichem Bezug. „Das Paar“ (1956), ein Paar Damen-Schnürstiefel: Die Spitzen sind vorne zusammengewachsen, so als könnten sie sich nie mehr aus einem allzu heftigen Kuss lösen. 1971 hat sie die Skulptur „Genoveva“ ausgeführt. An einem breiten Holzbrett sind seitlich zwei Kerben symmetrisch angebracht, in welche je ein abgebrochener Stecken geklemmt ist. Sie gleichen gebrochenen Armen – Ausdruck der Ohnmacht und zerstörten Freiheit der Frau.
Ihre Objekte frappieren durch ihre lapidare Aggressivität. Es dominiert eine fast minutiöse Korrespondenz poetisch inszenierter Details. Der Betrachter erlebt ein Ensemble addierter Körperzitate, die in ihrer ungewöhnlichen Koppelung eine fast kultische Magie ausdrücken.
Den Damen-„Pelzhandschuhen“ von 1936 war eine Prothese mit hölzernen Fingern und lackierten Nägeln untergelegt worden, die wie monströse Krallen aus dem Pelz hervorragen – eine Parodie surrealistischer Phantasien der Frau als unheimliches, sexuell bedrohliches Raubtier. Dagegen tragen die Leder-„Handschuhe (Paar)“ von 1985 die Skelettumrisse der menschlichen Hand wie ein modisches Dekor – die Mode ist vergänglich, ohne ihren Tod kann keine neue Mode entstehen. Mit der Fotografie „Röntgenaufnahme des Schädels M.O.“ (1964), die auf die rein physische Durchdringung der Körperhülle hinzielt, soll der traditionellen Funktion des Porträts, den inneren Zustand des Porträtierten in seiner Physiognomie bloßzulegen, ironisch eine Abfuhr erteilt werden. Dagegen tritt in ihrem „Porträt mit Tätowierung“ (1980) ihr fotografiertes Gesicht hinter eine Übermalung zurück. Ihre Selbstinszenierung als „Schamanin“ soll jeder Individualisierung widersprechen.
1970 stellte sie ein großes Objekt her, „Die alte Schlange Natur“. Schwarz glänzend mit glattem weißem Kopf liegt die Schlange, Symbol des Urprinzips der Natur, zusammengerollt auf einem vollen Kohlensack. Die Natur ist hier als Vereinigung von Gegensätzen dargestellt. Oppenheim hatte ihre eigene Version vom biblischen Sündenfall. Die Schlange, die sich auch durch ihr ganzes Werk schlängelt, habe glücklicherweise Eva dazu verleitet, zuerst vom Baum der Erkenntnis, des bewussten Denkens zu essen, bevor sie den Apfel Adam gab. Das verpflichte alle Frauen zu Aktivität, Neugier, Wissensdurst und zu scharfem Gebrauch ihres Verstandes. Meret Oppenheim hat sich ihr ganzes Leben daran gehalten.
Meret Oppenheim. Retrospektive; Martin-Gropius-Bau Berlin, bis 1. Dezember, Katalog 25,00 Euro.
Schlagwörter: Klaus Hammer, Martin-Gropius-Bau, Meret Oppenheim, Surrealismus