16. Jahrgang | Nummer 18 | 2. September 2013

Finderlohn

von Erhard Weinholz

Neulich habe ich mich daran gemacht, ein Verzeichnis meiner Sammlungen anzulegen. An manche hatte ich lange nicht gedacht, immer noch eine brachte sich in Erinnerung, Reiseprospekte aus den Nachkriegsjahren, Papierfähnchen von Wurst- und Käse-Firmen, Lesezeichen, armenische Weinflaschen-Etiketts und so weiter und so fort. Zuletzt kam ich auf reichlich drei Dutzend. Wenn sich zu einem Stück, vielleicht nur aus Versehen nicht weggeworfen, irgendwann ein zweites, dann ein drittes gesellte, hatte das Aufbewahrte schon Sammlungsrang, war also, vorerst zumindest, vor der Vernichtung gerettet. Nur von meiner Kollektion bedruckter Luftballons hatte ich mich wieder trennen müssen: Sie waren in ihren Tüten rettungslos miteinander verklebt. Ich hätte sie wohl gelegentlich aufblasen müssen.
Die Sammlung, von der nun die Rede sein wird, ist recht klein: alte Programmhefte, vier an der Zahl. Das jüngste ist vom Dezember 1950, als Bolly, der musikalische Landstreicher, und Sobott’s dressierte Borstenviecher im Berliner Friedrichstadt-Palast auf der Bühne standen. Die anderen drei stammen vom Metropol-Theater: von „Maske in Blau“, Uraufführung 1937, „Die Zirkusprinzessin“, mit Druckvermerk 6.46, und „Nächte in Shanghai“ aus dem Folgejahr – eine Annonce verweist darauf.
Die Annoncen sind überhaupt das Interessante an diesen Programmheften. Denn für die Julischka mit ihrem Herz aus Paprika oder die Intrigen des Mr. Tschang wird sich wohl kaum noch jemand begeistern. Bei „Nächte in Blau“ war es eine ganzseitige Eigenanzeige der Bühne, die mich lange hatte rätseln lassen: „Allabendlich der seit Jahren größte Theater-Erfolg: ‚Frauen im Metropol’“ – vier von ihnen sieht man in durchscheinenden Hüllen dahinschweben. SBZ? Unmöglich. Nazizeit? Deutsche Mütter oben ohne? Passt genauso wenig. Bis ich jetzt im Internet das erwähnte Datum fand.
Bei den anderen Heften lohnt sich ein Blick auf die Kleinanzeigen. „Holzgas-Generatoren-Fabrik Paul Mischke & Co. Verlangen Sie, bitte, unseren ausführlichen Prospekt“, „Uniform-Teile umarbeiten flicken färben. Ständig Sonderangebote“, „’Pilze als Fleischersatz’. Dieses Heft gehört in jeden Haushalt!“… Nein, nichts dergleichen. Statt dessen – 1946/47 – „Ines Valdés Ballettschule“, „Kosmopolita Die Gaststätte am Oranienburger Tor 3 Etagen“, an eine knapp hüfthohe Erdkugel lehnt sich eine schicke Dame, wahrscheinlich Kundin bei Moden-Bert, Friedrichstraße 120, „Elegante Kleider Mäntel Blusen“, und ist am Oranienburger Tor alles voll, bleibt noch die Chery-Bar, „die gepflegte Unterhaltungsgaststätte Gute Küche Oranienburger Straße 39“. Waren das alles nur Phantome gewesen, Versuche, wenigsten auf dem Papier einen Rest Bürgerlichkeit zu bewahren, in die neue Zeit zu retten? Aber für Phantome stürzt man sich nicht in Unkosten. Vielleicht hatte sich auch dies und jenes erhalten, das Zeugnis gab von der einstigen Existenz solcher Exoten im Trümmerland, alte Schilder, verstümmelte Inschriften, kaum lesbar noch, nur dem verständlich, der danach sucht? Manchmal bleibt so etwas ja im Verborgenen bewahrt: Das Gerdeen-Kosmetik-Relief am Bahnhof Friedrichstraße, viele Jahre von anderer Werbung verdeckt, kam 1990 wieder zum Vorschein und wurde sorgfältig restauriert, obwohl die Firma längst verschwunden war.
Dort, am Bahnhof, begann ich an einem frühen Aprilmorgen meine Spuren-Erkundungstour. Ich passierte die Weidendammer Brücke, bog von der Friedrichstraße nach rechts in die Oranienburger, lief am Hackeschen Markt vorbei und weiter durch die Neue und die Alte Schönhauser Straße bis zum Bahnhof Luxemburgplatz. Unterwegs kam mir ein Brief in den Sinn, der mir vor Jahren bei der Suche nach DDR-Materialien in die Hände geraten war: Eine Journalistin schilderte darin einem Maler, zugleich Professor an der Humboldt-Universität, detailliert und in drastischen Worten, wie sie sich in den Sechzigern gelegentlich abends auf der Oranienburger Straße angeboten und was sie darauf mit einigen ihrer Kunden erlebt hatte. Schon erstaunlich, was es an längst Vergessenem alles so gegeben hat bei uns im Osten. Aber jetzt waren die Straßen leer und die Schönen der Nacht längst im Bett. Eigentlich hatte ich auf dem Wege einiges notieren wollen, doch war es an diesem Morgen zu kalt, sich im Freien niederzulassen. So muss ich aus dem Gedächtnis berichten, und das ist nicht weiter schwer: Nirgends waren Zeichen der einstigen Nutzung zu finden, auch nicht zuletzt in der Neuen Schönhauser Straße 20, wo „Zum Kellermeister“ angeblich gute Speisen und Getränke geboten hatte und Konzert, Tanz und Unterhaltung obendrein.
Einen Versuch wollte ich noch unternehmen – in Vorstädten hält sich doch manches länger: Bardinet-Liköre, Baumschulenweg, Bodelschwinghstraße 22-24. „Bardinet-Liköre haben Weltruf“. Auch das war erstaunlich. An einem sonnigen Vormittag fuhr ich in den Süden Berlins; unterwegs machte ich mir, wohl angeregt vom Klang des Namens „Bodelschwingh“, höchst romantische Vorstellungen von dieser kleinen Straße: schöne Jugendstilhäuser, große alte Bäume. Es gibt ja solche Ecken in Baumschulenweg. Vielleicht würde ich diesmal auch mit jemandem ins Gespräch kommen, wie damals in der Lichtenberger Pfarrstraße mit der alten Frau, als ich auf einem Hof dort Stallungen und eine Scheune fotografierte: Sie hatten, wie sie mir erzählte, zum Milchviehbetrieb ihrer Eltern gehört.
Die Bodelschwinghstraße sah natürlich ganz anders aus als gedacht: auf der einen Seite langweilige neuere, auf der anderen ebenso langweilige ältere Bauten und zwischen ihnen zwei Häuser, die ein bisschen nach Postmoderne aussahen. Das waren die Nummern 22 und 24. Ich fragte jemanden, was vorher dort gewesen sei. „Eigentlich nichts“ war die Antwort. Es gab also keinen Grund, sich hier länger aufzuhalten, ich lief hinüber zur Baumschulenstraße und setzte mich mit einem Becher Kaffee vor einen Backshop. Neben mir saßen ältere Herren, die sich lebhaft unterhielten; sie machten Gesichter, als wüssten sie, wo es langgeht im Leben. Ich trank schweigend meinen recht bitteren Kaffee und dachte über meine Unternehmung nach, über die Vergänglichkeit und wie man ihr entgehen könnte. Die Hausbücher, fiel mir ein, man hätte sie in der Art führen sollen wie in den Betrieben die Brigadetagebücher, mit Fotos und Berichten, Zeichnungen, Interviews, Zeitungsausschnitten, kleinen Tapetenstreifen. Nicht mehr dem Staat, sondern den Bewohnern wäre so ein Buch dann von Nutzen gewesen. Alle könnten zu Wort kommen, niemand würde mehr in Vergessenheit geraten. Zumindest vorerst.