von Dieter B. Herrmann
Der Mount Wilson ist nicht der höchste Berg der San Gabriel Mountains in Kalifornien. Doch das vermag ihm nicht den Ruhm streitig zu machen, eines der erfolgreichsten astronomischen Observatorien des 20. Jahrhunderts zu beherbergen. Nordöstlich von Los Angeles führt eine 19 Meilen lange Serpentinenstraße („Narrow, winding road“) auf den 1.742 Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Berg. Es ist durchaus nicht selbstverständlich, dass wir an diesem heißen Sommertag grünes Licht für unsere Fahrt erhalten haben. Verbrannte Baumleichen längs des Weges gemahnen uns, dass es auch anders hätte kommen können. Waldbrände sind in dieser Region keine Seltenheit und dann wird die Straße geschlossen. Auch Steinschläge können den Weg versperren. Nichts von alledem heute und so genießen wir die atemberaubenden Ausblicke in die wildromantische Berglandschaft, ehe uns auf dem Gipfel ein Wald von hochragenden Antennentürmen begrüßt, die allerdings dem Rundfunk und der Verbreitung von 25 Fernsehprogrammen für den Großraum Los Angeles dienen. Bald aber erspäht man im strahlenden Sonnenlicht zwischen den hoch gewachsenen uralten Nadelbäumen auch die Produkte einer technischen Zivilisation, die nichts mit Broadcasting zu tun haben: höher als die ältesten Bäume ragen zwei stählerne Turmgerüste mit strahlendweißen Kuppeln in den blauen Himmel.
George Elery Hale, einer der großen Forscher und Organisatoren der US-amerikanischen Astronomie, hatte sie hier vor über hundert Jahren errichten lassen – die ersten Turmteleskope der Sonnenforschung. Der höhere der beiden schlanken Giganten (1912) ragt 46 Meter empor. Ein raffiniertes Spiegelsystem, das der scheinbaren Sonnenbewegung nachgeführt wird, lenkt Sonnenlicht in ein ortsfestes unterirdisches Labor zu Füßen des Turmes, wo es wissenschaftlich analysiert werden kann. Durch die hoch angebrachten Spiegel konnte Hale störende Luft-Turbulenzen infolge Erwärmung weitgehend ausschalten. Hale selbst entdeckte unter Verwendung dieser Teleskope im Spektrum des Sonnenlichtes Linienaufspaltungen, die ihn zu der wichtigen Erkenntnis führten, dass die Sonnenflecken der Sitz extrem starker Magnetfelder sind. Für das Verständnis der Sonne, aber auch für die Aufklärung solar-terrestrischer Wechselwirkungen war diese Erkenntnis wegweisend.
Doch Hale baute die anfängliche Sonnenwarte mit Unterstützung privater Mäzene, vor allem des Stahlmagnaten Andrew Carnegie, weiter aus. Carnegie, von dem der Satz stammt „Ein Mann, der reich stirbt, stirbt in Schande“, verankerte sein Vermögen gemäß seiner „Ethik des Reichtums“ in weltweit agierende Stiftungen für wissenschaftliche und kulturelle Zwecke, die bis heute segensreich agieren.
Hale ließ sich beim Ausbau des Mt. Wilson-Observatoriums von dem wegweisenden Gedanken leiten, dass die Epoche der Spiegelteleskope angebrochen sei. Tatsächlich war man mit den Linsenfernrohren an eine aus technischen Gründen nicht mehr überbietbare Grenze der Öffnungen gestoßen, wie Hale selbst erkennen musste, als er 1895 den Yerkes-Refraktor mit einer Linse von 102 Zentimeter Durchmesser hatte errichten lassen. So folgte 1908 auf dem Mt. Wilson ein Teleskop mit 152 Zentimeter (60 inch) Spiegeldurchmesser. Schließlich aber entstand mit einer Geldspritze des Geschäftsmannes John D. Hooker ein 100-inch-Spiegel-Teleskop (2,50 Meter Durchmesser), das – 1919 fertig gestellt – für mehr als drei Jahrzehnte das größte astronomische Beobachtungsinstrument der Welt darstellte. Fortan wurde der Mt. Wilson zu einem wahren Mekka führender Astronomen aus aller Welt. Wer Rang und Namen in der Astronomie besaß, war hier angestellt oder doch im Rahmen eines von Carnegie geförderten Research Associate Programms zeitweise tätig.
In besonders glücklicher Weise prägte das neue Rekord-Instrument den weiteren wissenschaftlichen Lebensweg von Edwin C. Hubble. Hubble hatte eigentlich nichts rechtes gelernt, ein Jura-Studium in Oxford abgebrochen und verdiente sich seinen Lebensunterhalt als 27-Jähriger mit Übersetzungen und als Lehrer für Spanisch und Physik. Unter diesen Umständen war es schon erstaunlich, dass der unkonventionelle Chef des Yerkes-Observatoriums das akademisch unbeschriebene weiße Blatt auf dessen Wunsch als Assistenten einstellte, weil Hubble sich damit einen Jugendtraum erfüllen wollte. Ein Glück kam zum nächsten: In seiner Dissertation wendete er sich den nebligen Objekten zu, über die man damals gerade zu debattieren begann, ohne zu wissen, worum es sich dabei überhaupt handelte. Als nun Hale – auf der Suche nach begabten jungen Leuten für die Mt. Wilson-Sternwarte – die Yerkes-Sternwarte besuchte, muss wohl auch der Name Hubbles mehrfach gefallen sein. Eines Tages zog dieser jedenfalls einen Brief von Hale aus dem Postkasten, in dem dieser ihm eine Stelle auf dem Mt. Wilson anbot. So kam Hubble kurz vor der Fertigstellung des Hooker-Teleskops als 30-Jähriger auf das Bergobservatorium, wo ihm gleichsam das leistungsstärkste Teleskop der Welt auf dem Tablett serviert wurde. Doch Hubble hatte die richtigen Fragen zur richtigen Zeit gestellt – eine Kunst, die man nicht erlernen kann. Als er im Oktober 1923 den Andromeda-Nebel mit dem Hooker-Spiegel fotografierte, erschienen im Entwicklungsbad der Dunkelkammer drei Sternchen, die sich vielleicht zur Entfernungsbestimmung des Objektes nutzen ließen. Weitere Aufnahmen bestätigten das, und binnen weniger Wochen machte Hubble die bahnbrechende Entdeckung, dass der Andromeda-Nebel sich außerhalb unseres Sternsystems befindet und selbst eine Welten-Insel aus hunderten Milliarden Sternen darstellt. Die in der Astronomie seit Jahren schwelende „Weltinsel-Debatte“ war mit einem Schlag beendigt. Der größte Gegner der Weltinsel-Hypothese, Harlow Shapley, war übrigens zuvor selbst sieben Jahre am Mt. Wilson tätig gewesen, allerdings ohne Hooker-Spiegel.
Doch Hubble blieb am Ball und untersuchte weiter fleißig die Nebel, tatkräftig unterstützt von Milton Humason, der als Maultiertreiber in den Bergen den Aufbau von Mt, Wilson verfolgt hatte, dann dort Hausmeister und schließlich Wissenschaftler wurde. 1929 schließlich konnte Hubble anhand der Spektren von „Nebeln“ nachweisen, dass diese sämtlich so genannte Rotverschiebungen ihrer Linien aufwiesen. Das bedeutete nach einer plausiblen Argumentation, dass sie sich alle von uns entfernten, je weiter um so schneller. Die Expansion des Weltalls war entdeckt! Eine wirkliche Sensation, aus der die heutige „Urknall-Hypothese“ hervorging. Einstein hatte bekanntlich aus seiner Relativitätstheorie ein statisches Weltall mit konstantem Durchmesser abgeleitet. Der Russe Friedmann aber konnte ihm nachweisen, dass Einstein seine eigene Theorie falsch ausgelegt hatte. Das Weltall müsse entweder expandieren oder kollabieren, könne aber nicht statisch sein. Genau das hatte Hubble nun durch Beobachtungen belegt. Einstein reiste 1931 auf den Mt. Wilson, um mit Hubble ins Gespräch zu kommen und die gigantische Maschine zu besichtigen, die diese Entdeckung möglich gemacht hatte.
Vor mir erhebt sich der weiße Dom des Hooker-Teleskops mit seiner imponierenden Höhe von 35 Metern und einem Durchmesser von 32 Metern. Die Kuppel des Petersdoms in Rom ist nur elf Meter größer. Wir betreten das Innere des Raumes, von wo aus eine gläserne Front den Blick auf das spärlich beleuchtete rund 90 Tonnen schwere Kronjuwel frei gibt. Doch auch Veteranen können noch sehr aktiv sein. Nach einer Stillstandsphase von 1989 bis 1994 wurde das historische Teleskop dank der Großzügigkeit zahlreicher Stiftungen und privater Spender gründlich aufgerüstet und ist heute mit seinem „Second Light“ wieder im Rahmen mehrerer Forschungsprojekte aktiv. Obschon es inzwischen weitaus größere Spiegelteleskope gibt, spielt der Hooker-Spiegel immer noch mit bei der Suche nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Auch sonst herrscht auf dem Mt. Wilson im Skyline Park des National Forest of Los Angeles noch reges wissenschaftliches Leben. Hier hat sich das Projekt „Chara Array“ (Center for High Angular Resolution Astronomy) der Georgia State University in Atlanta etabliert, das durch Zusammenschaltung von sechs 1-Meter-Teleskopen in bis zu mehr als 300 Meter Abstand höchste Auflösungen im optischen und infraroten Bereich erzielt und schon zahlreiche interessante Entdeckungen gemacht hat. Unter anderem wurde hier der erste Winkeldurchmesser eines Exoplaneten gemessen. An den Forschungen beteiligen sich neben mehreren US-amerikanischen auch zwei französische und ein australisches Institut.
Beim Verlassen der Hooker-Kuppel fällt uns eine ebenerdige große kreisförmige Struktur in die Augen. Es handelt sich um den „Deckel“ eines Tanks mit fast zwei Millionen Litern Löschwasser – eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall von Waldbränden, die den unersetzlichen Instrumenten gefährlich werden könnten. Ein letzter Blick schweift in die bizarre Landschaft hinaus, ehe wir wieder nach Los Angeles zurück fahren. Mit den Informationen über die wahrhaft ruhmreiche Vergangenheit dieses Ortes im Hinterkopf, beschleicht mich das Gefühl, entweder Hubble oder gar Einstein würden gleich aus einer Tür treten. Doch keiner von beiden ist gekommen.
Schlagwörter: Dieter B. Herrmann, Galaxien, Hubble, Mount Wilson, Observatorium