von Stephan Lessenich
Wer nach 1945 in Europa – oder sagen wir in Westeuropa – geboren wurde, verbindet das höhere Lebensalter unwillkürlich mit der Vorstellung eines arbeitsfreien Lebensabends. Für die Kinder der industriellen Wohlstandsgesellschaften war das Altwerden, anschaulich vorgeführt durch die eigenen Eltern oder auch schon Großeltern, gleichbedeutend mit dem Ausscheiden aus der Erwerbsarbeit und dem Übergang in eine Lebensphase, die jedenfalls im deutschen Sprachraum vielsagend als „Ruhestand“ bezeichnet wurde.
Der Ruhestand: In diesem Begriff verbindet sich die Vorstellung von einem festen Lebensmuster mit dem Ausdruck eines bestimmten gesellschaftlichen Status. Die Älteren, so die eine Seite dieser im „goldenen Zeitalter“ des europäischen Wohlfahrtsstaats selbstverständlich gewordenen Praxis, ziehen sich aus der Erwerbsarbeit zurück und treten in eine Zeit der Ruhe ein, während auf der anderen Seite soziale Sicherungssysteme gewährleisten, dass aus der heterogenen Gruppe ehemals Erwerbstätiger ein eigener „Stand“ von materiell versorgten Rentnerinnen und Rentnern hervorgeht.
Der vollständige Rückzug aus dem Erwerbsleben – der sich im Gegensatz zu dem deutschen Begriff der „Verrentung“ im englischen „retirement“ und in der französischen „retraite“ widerspiegelt – wurde durch die Einrichtung öffentlicher Alterssicherung überhaupt erst denkbar. Und nur deren schrittweiser Ausbau zu einer Garantie der relativen Lebensstandardsicherung im Alter ließ den „Ruhestand“ für breite Bevölkerungsschichten tatsächlich zu einer realen biografischen Alternative werden. Wohl nicht zufällig ist daher in der spanischen Sprache mit Blick auf den Übergang ins Rentenalter vielsagend von „jubilación“ die Rede: Die zwar späte, aber dafür bezahlte Befreiung von den Mühen und Lasten der Erwerbsarbeit erscheint hier als Anlass durchaus berechtigter Freude.
Diese doppelte Freude auf Entpflichtung und Versorgung wird, so scheint es jedenfalls, den heute bereits älteren Menschen noch nicht vergehen. Doch den zukünftigen Generationen wird sie wohl nicht mehr beschieden sein. Der Ruhestand als soziale Institution und politische Errungenschaft der westeuropäischen Nachkriegsgesellschaften ist gegenwärtig auf dem besten – oder eher schlechtesten – Wege, historisch zu werden.
Mittlerweile haben all diese Gesellschaften mehr oder weniger weitreichende „Reformen“ ihrer Alterssicherungssysteme in Angriff genommen. Sie laufen allesamt darauf hinaus, das Rentenzugangsalter zu erhöhen, das Leistungsniveau der öffentlichen Zuwendungen zu senken und die jüngeren Menschen verstärkt zu privater Altersvorsorge anzuhalten.
Zudem vollzieht sich grenzübergreifend – und maßgeblich angetrieben durch die auf europapolitischer Ebene propagierte Losung des „active ageing“ – eine allmähliche Umdeutung des Alters: Eine Lebensphase später Freiheit wird zu einem Lebensabschnitt fortgesetzter Produktivität. Während dieses neue Bild eines „jungen“, aktiven und produktiven Alters in der Realität zur Rechtfertigung des Rückbaus materieller Alterssicherungen dient, reklamieren seine Propagandisten in Politik, Medien und Wissenschaft zugleich ein hehres normatives Ziel für sich, das in der gängigen EU-Sprache das fröhliche Etikett „adding life to years“ erhalten hat. Das soll suggerieren, die Förderung von verlängerter Erwerbsbeteiligung und bürgerschaftlichem Engagement der Älteren sei gleichbedeutend mit deren Aufwertung zu leistungsbereiten, nützlichen und gemeinwohlorientierten Mitgliedern der Gesellschaft.
Sollte sich diese Tendenz zur materiellen Entsicherung der Lebensverhältnisse und zur neuerlichen „Eingemeindung“ der Rentner in die normativen Strukturen der Erwerbsgesellschaft fortsetzen, so wäre die Geschichte des Ruhestands eine ausgesprochen kurzlebige Epoche gewesen. In einer künftigen Sozialgeschichtsschreibung der europäischen Gesellschaften würde man die regulative Idee, die politische Semantik und die soziale Praxis des Ruhestands rückblickend als wohlfahrtsstaatliches Intermezzo deuten müssen – sozusagen als kurzen Sommer der Anarchie im Umgang der Arbeitsgesellschaft mit dem Alter.
Dass es den Ruhestand überhaupt gibt, ist rückblickend betrachtet alles andere als selbstverständlich. Bis zu seiner Etablierung galt in den Industriegesellschaften Europas die Norm und Normalität von im Wortsinne „lebenslanger“ Arbeit: Weil es keine öffentlichen Vorkehrungen für die materielle Absicherung im Alter gab, waren die Arbeitskräfte darauf angewiesen, so lange wie irgend möglich „in Lohn und Brot“ zu stehen.
Das erklärt, warum die ersten Systeme zur Altersvorsorge durchweg so angelegt waren, dass sie nur ein „Zubrot“ zu einem nach wie vor zu erzielenden Erwerbseinkommen erbrachten. Ganz in diesem Sinne orientierte sich zum Beispiel die bismarcksche Altersversicherung am Prinzip des „Kombilohns“: Die Altersrente sollte die nachlassende Leistungsfähigkeit und die damit verbundenen Lohneinbußen älterer Beschäftigter kompensieren; keineswegs aber sollte sie die Älteren vollständig vom Erwerbsarbeitszwang befreien. Zudem lag zum Beispiel im deutschen Fall das gesetzliche Renteneintrittsalter zunächst bei nicht weniger als 70 Jahren.
„Alter“ und „Arbeit“ bildeten in den europäischen Industriegesellschaften bis Mitte des 20. Jahrhunderts keineswegs ein Gegensatzpaar. Ganz im Gegenteil: Die längste Zeit über vermeldeten die Arbeitsbiografien den normalen Lauf der Dinge, dass der Tod den Menschen mitten aus dem Leben riss – sprich ihn bei der Arbeit ereilte.
Vor dem Hintergrund der normativen Regel und faktischen Regelmäßigkeit lebenslanger Arbeit grenzt es an ein Wunder, dass sich die Idee und Praxis des von Erwerbspflichten befreiten und mit Einkommensersatz versehenen Ruhestands durchsetzen konnte. Denn im Grunde genommen ist diese Idee, jedenfalls aus der Perspektive der Arbeitsgesellschaft, im doppelten Wortsinn „unmöglich“: Es erscheint als unlogisch und moralisch unzulässig, eigentlich erwerbsfähige Personengruppen nicht nur dauerhaft von der Pflicht zur Erwerbsarbeit freizustellen, sondern obendrein auch noch mit einem öffentlichen Unterhaltsanspruch zu versehen.
Aus dieser Sicht muss es geradezu skandalös erscheinen, dass (je nach geltendem Recht) 60-, 65- oder 70-Jährige unabhängig von ihrer tatsächlichen Arbeitsfähigkeit, allein wegen des Erreichens eines bestimmten Lebensalters, bei fortlaufenden Bezügen von der Arbeit freigestellt werden. Wie eingeschränkt diese Bezüge auch immer sein mögen (und im konkreten Fall wurden sie auch stets durch einen ganzen Satz an Bezugsbedingungen begrenzt): Im Prinzip ist die Etablierung einer Regelaltersgrenze ein erwerbsgesellschaftliches Unding. Für liberale Apologeten der Arbeitsmarktgesellschaft ist die arbeitsfreie Altersrente ein Paradefall für jenen berühmt-berüchtigten „free lunch“, der ihnen so gar nicht schmeckt.
Weil die Vorstellung eines von der Arbeitspflicht befreiten Lebens nicht zu der moralischen Ökonomie industriekapitalistischer Gesellschaften passt, war der Weg zur politischen Durchsetzung und gesellschaftlichen Akzeptanz des Ruhestands lang und konfliktreich. Denn die Realisierung dieser Vorstellung läuft den herrschenden Überzeugungen davon, wer wem was schuldet, diametral entgegen.
Was zunächst für Kinder, mit der Zeit aber auch für Jugendliche und junge Erwachsene als angemessen betrachtet wurde – sie nämlich von der individuellen Pflicht zur Sicherung des eigenen Lebensunterhalts durch Erwerbsarbeit zu befreien –, bedurfte bei den älteren Menschen eines deutlich längeren Vorlaufs (und im Hinblick auf Erwerbslose „im besten Alter“ gilt dieser Anspruch auch heute noch nicht als wirklich legitim).
In der Bundesrepublik bescherte erst die Nachkriegsrentenreform von 1957 dem durchschnittlichen (männlichen) Arbeitnehmer die biografische Option eines zugleich erwerbsbefreiten und existenzgesicherten Alters. Entsprechend waren es allenfalls die nach der Jahrhundertwende Geborenen, die kollektiv die historisch neuartige soziale Rolle des „Ruheständlers“ beanspruchen konnten.
Die Sozialgeschichte des Ruhestands beginnt in den europäischen Industriegesellschaften also streng genommen – als breitenwirksames und alltagsrelevantes Phänomen – erst in den 1960er Jahren, zum Teil auch erst deutlich danach. Das aber macht die Diagnose, dass diese Geschichte gegenwärtig schon wieder an ihr Ende zu kommen scheint, umso erstaunlicher und bedeutsamer.
Der kurze Traum vom Ruhestand hängt unmittelbar mit jenem Phänomen zusammen, das der im März verstorbene französische Soziologe Robert Castel als die Tragik der Lohnarbeitsgesellschaft beschrieben hat: Just in dem Moment, da die Lohnarbeit endgültig zum organisierenden Zentrum gesellschaftlicher Statuszuweisung und sozialer Sicherung geworden sei, stellen Massenarbeitslosigkeit und die Ausbreitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse eben jene zentrale Rolle der Arbeit brutal infrage.
Ganz ähnlich und – wegen ihres mittelbaren Bezugs zur Lohnarbeit – nicht zufällig stellt sich die historische Konstellation hinsichtlich der Institution des Ruhestands dar: Kaum war er sozialpolitisch etabliert und gesellschaftlich akzeptiert, begannen seine regulativen und normativen Grundlagen schon wieder zu bröckeln. Das arbeitsbefreite Altersleben bedeutete im Nachkriegseuropa für zwei oder vielleicht drei Generationen eine unschätzbare und nie zuvor dagewesene Errungenschaft. Für die europäischen Gesellschaften insgesamt war die Ruhestandserfahrung hingegen anscheinend nur ein kurzes Vergnügen.
Denn seit bald zwei Jahrzehnten lässt sich eine fortschreitende Tendenz zur politischen Delegitimierung des Ruhestands feststellen. Die um sich greifende Rhetorik und Programmatik „aktiven Alterns“ lässt sich im Kern als Versuch verstehen, das Alter wieder in die Arbeitsgesellschaft einzugliedern. Die Anhebung des Renteneintrittsalters, das Loblied auf das bürgerschaftliche Engagement der Älteren und die zahllosen europäischen und nationalen Programme zur Förderung ihrer „Inklusion“ – das Jahr 2012 hat die EU zum „European Year for Active Ageing“ ausgerufen – haben alle einen gemeinsamen Nenner: die Wiederkehr der Idee von der Würde und der Wertigkeit lebenslanger Arbeit.
Ein neues Rollenmodell für die normalsterblichen Alten
Wer nicht arbeitet oder zu arbeiten aufhört, darf in den europäischen Gesellschaften zwar noch essen (wenn auch weniger als die Arbeitenden und weniger als zuvor), doch er gilt nicht mehr als löbliches Vorbild. Das Rollenmodell des Alters ist heute nicht mehr die gütige Großmutter, der rüstige Senior oder gar der zufriedene Frührentner. Vorbei die Zeiten des „goldenen Handschlags“ und der ruhigen Kugel auf Mallorca – politisch gewünscht, gefragt und gefordert ist in Zukunft wieder die frühindustrielle, genauer die vorwohlfahrtsstaatliche Normalität eines Lebens für die und von der Arbeit – auch am Lebensabend.
Alterspolitisch stilbildend sind heutzutage vor allem Unternehmer und Freiberufler, Wissenschaftler und Künstler, die bis ins hohe und höchste Alter aktiv bleiben. Sie sollen den normalsterblichen Alten vormachen, wie auch sie das EU-politische Gebot erfüllen könnten, „to get more out of life as you grow older, not less“. Was die öffentlichen Modellathleten des Arbeitens bis zum Umfallen vorleben, wird „den“ und das heißt im Grunde allen Älteren als Wunsch zugeschrieben, nicht nur ein gesichertes, selbstbestimmtes und erfülltes Nacherwerbsleben zu führen, sondern auch auf Dauer und bis zum Schluss produktiv zu bleiben.
Die potenziell leistungsfähigen Phasen des menschlichen Lebens werden zunehmend nach „vorne“, bis in das frühkindliche Alter, wie nach „hinten“, bis ans Lebensende, verlängert. Dies aber ist nicht Ausdruck eines Strukturwandels des Alters und der Lebensgestaltung, den die spätindustrielle Ära irgendwie mit sich bringt, sondern Teil einer spätkapitalistischen Dynamik der Ökonomisierung und Inwertsetzung immer weiterer gesellschaftlicher Lebensbereiche. „Getting more out of life, not less“ lautet die neue (finanz)kapitalistische Devise des Tages, der jetzt eben auch das Alter unterworfen wird.
Und noch etwas steckt hinter dem Abschied vom Ruhestand. Es geht dabei nicht nur um eine ökonomische, sondern auch um eine soziale Logik, die als Dialektik der Demokratisierung sozialer Rechte bezeichnet werden könnte: Kaum wurde das hohe Gut einer gesicherten und entpflichteten Altersexistenz für breite Mehrheiten erreichbar, war es mit deren politischer Legitimität auch schon wieder vorbei. Kaum schien es möglich, dass fast jedem Rentner ein sorgenfreies Leben vergönnt ist, da konnte man sich den Ruhestand gesamtgesellschaftlich „nicht mehr leisten“, wurde der „wohlverdiente Ruhestand“ als Merkmal materieller wie moralischer Sorglosigkeit denunziert.
Soziale Rechte sind im Grunde positionale Güter: Kommen sie tendenziell allen zugute, werden sie für die zuvor Privilegierten wertlos. Die suchen dann nach neuen Ressourcen und Instrumenten sozialer Distinktion – oder sie bemühen sich, den Kreis der Anspruchsberechtigten zu begrenzen. Aus Sicht dieser Privilegierten war die Garantie einer arbeitsfreien Versorgung breiter Bevölkerungsschichten schon immer ein sozialpolitischer Sündenfall.
Aus emanzipatorischer Perspektive dagegen erscheint der Ruhestand, zumal unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen, als geradezu subversive Idee. Für diese Idee gälte es unbedingt einzutreten – gegen den Terror der Arbeitsökonomie und den Sozialfuror der privilegierten Milieus.
Stephan Lessenich ist Professor für Vergleichende Gesellschafts- und Kulturanalyse am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er ist (mit Tina Denninger, Silke van Dyk und Anna Richter) Autor von „Leben im Ruhestand. Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft“, das demnächst im Transcript-Verlag erscheint.
Aus Le Monde diplomatique, Nr. 10130 vom 14.6.2013. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Schlagwörter: Alterssicherung, Erwerbsgesellschaft, Europa, Ruhestand, Sozialgeschichte, Stephan Lessenich