von Alexander Rahr
Die Globalisierung läuft seit dem Ende der bipolaren Welt in schnellen Zügen. Charakteristisch für die neue Weltordnung ist der Bedeutungsverlust von jahrhundertealten Landesgrenzen, die Aufweichung der national-staatlichen Souveränität, die Entstehung internationaler Sanktionsregime, der Aufbau internationaler Gerichtshöfe, die Proklamation westlicher liberaler Werte wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu universellen Menschenrechten – über die Gesetze und Verfassung nationaler Staaten hinaus.
Nicht alle Kulturnationen folgen der Idee der neuen Weltordnung. Die Konfliktlinien zwischen der neuen, postmodernen Zivilisation und der alten verlaufen mitten durch die islamische Welt, Afrika, China und Eurasien. Im Westen, von wo die Schubkraft für die neue Weltordnung kommt, sieht man die Konfliktlinien nicht als Kampf der Kulturen. Der Westen, überzeugt von der universellen Kraft seines Sendungsbewusstseins in Sachen Demokratie, Freiheit und Menschenrechte, spricht vom Kampf der modernen aufgeklärten Menschheit gegen korrupte, autoritäre Diktatoren oder totalitäre Ideologien. Er glaubt an die Weltrevolution der neuen globalen Mittelschicht oder Mittelklasse (des modernen Bürgertums), fast so wie vor 100 Jahren die Bolschewiken im Siegestaumel nach der Oktoberrevolution das internationale Proletariat zur kommunistischen Weltrevolution führen wollten. Natürlich ist das heutige Ideal von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten mit den Versuchen vor 100 Jahren, die alte monarchistische Weltordnung durch eine globale Bauern- und Arbeiterrevolution wegzufegen, moralisch nicht vergleichbar. Aber die Welt hat es heute wieder mit einer fortschrittlichen Idee zu tun, die Millionen elektrisiert.
Fortschrittliche Ideen der Freiheit waren immer treibende Kräfte bei globalen Veränderungen in der Menschheitsgeschichte. Doch sie machten bald Platz für die andere Frage – die der Macht und Führung im Prozess der Verwirklichung.
Die Frage, wer heute Architekt der neuen Weltordnung ist, bleibt noch offen. Während für die einen die Konturen der künftigen Weltordnung auf eine globale „Westernisierung“ zulaufen, sehen andere die Weltordnung zunächst in einem Durcheinander versinken. Eine alles ordnende Weltregierung gibt es nicht, weil es über die Regeln der künftigen Weltordnung keinen Konsens gibt.
Formal betrachtet ist der UN-Sicherheitsrat eine Art Weltregierung – seit 1945. Aber er ist handlungsunfähig, weil dort die Interessen der Veto-Mächte oft im Gegensatz zueinander stehen. Russland und China sind keine Befürworter der gerade beschriebenen Idee der neuen freiheitlichen Weltordnung. Sie fordern eine Stärkung des Staates.
Nach dem Kalten Krieg galt die G-8 als Nukleus einer neuen Weltordnung – unter Führung der USA und mit der zweiten Atommacht der Welt, Russland, in der Rolle eines Juniorpartners des Westens. Diese Institution hat sich ebenfalls überlebt, denn sie repräsentierte letztlich nur den Westen. Der Westen allein ist jedoch zu schwach, die Weltordnung nach seinem Gutdünken zu gestalten. Seit Beginn des Jahrtausends, vor allem seit die westliche Welt durch die Finanzkrise wirtschaftlich und politisch angeschlagen ist, entwickelt sich die G-20 zu einem neuen globalen Entscheidungs- und Expertengremium. Die G-8 sitzt dabei mit wichtigen Schwellenländern und künftigen Weltmächten wie China, Indien, Brasilien – kurzum den BRICS Staaten – an einem Tisch. Die G-20 soll künftig in der Lage sein, eine alternative oder einheitliche globale Wirtschaftsagenda zu entwickeln. Noch befasst sie sich nicht mit Sicherheitsfragen, wie die G-8 derzeit mit Syrien. Aber die Verlagerung des Gravitationszentrums der Weltwirtschaft und Weltpolitik von Europa nach Asien wird die Beschäftigung der G-20 mit globalen Sicherheitsfragen unumgänglich machen. Russland ist die treibende Kraft innerhalb der G-20 für die Zementierung einer neuen multipolaren Weltordnung, in der neben den USA zumindest die EU, China, Russland und Indien als gleichwertige Pole eine politische Existenzberechtigung erhalten. Russland wird in Kürze turnusgemäß die Präsidentschaft der G-20 übernehmen und einen Gipfel in Sankt Petersburg abhalten, von dem Vorschläge zur Neugestaltung des WTO- wie des Weltfinanzsystems, der Beziehungen zwischen reichen und armen Ländern sowie der Fragen der Energieversorgung ausgehen sollen. Russland möchte den weltanschaulichen Aspekt der künftigen Weltordnung ebenfalls auf die Tagesordnung setzen. Nicht von ungefähr hat Putin den renommierten Valdai-Klub ausländischer Russlandexperten und russischer Wissenschaftler gebeten, für dessen 10. Sitzung in diesem Jahr das Thema „Identitätsbildung von Saaten im 21. Jahrhundert“ zu analysieren. Hier soll es um die Frage gehen, inwieweit Staaten in der modernen Welt noch eine Existenzberechtigung haben sollen, auf welcher Grundlage sie funktionieren, ob sie – wie am EU-Modell deutlich – durch supranationale regionale Gebilde ersetzt werden. Führende EU-Politiker sehen die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa als weiterführendes Ziel und Ideal für Europa an. Es ist da nur verständlich, wenn Russland seine Vision von einem zweiten Großverbund – der Eurasischen Union – entwickelt. Für Staaten, die keine Perspektiven haben, im künftigen EU-Europa aufzugehen. In westlichen Expertenkreisen wird Russland oftmals als rückständiges Land bezeichnet, das in der globalen Wirtschaft nicht wettbewerbsfähig sei und deshalb wenig politische Substanz habe. Doch in russischen Wissenschaftskreisen wird inzwischen eine Theorie entwickelt, die dem überwiegend wirtschaftsorientierten Verständnis der Wettbewerbsfähigkeit im modernen Politikkontext widerspricht. Ein Verfechter dieser Linie ist der Think Tank von Vladimir Jakunin, der nominell Präsident der Russischen Eisenbahnen ist. Insider wissen, dass er zum engsten Beraterkreis des russischen Präsidenten gehört. Er glaubt, die Wettbewerbsfähigkeit eines Staates hänge von dessen Fähigkeit ab, sich im Umfeld externer Herausforderungen erfolgreich, langfristig und harmonisch zu entwickeln. Hierfür treten die eigene Größe, eine eigenständige Außenpolitik und die Frage des Zugangs zu Ressourcen in den Vordergrund. Der souveräne Charakter des Staates behält dabei Priorität, im Gegensatz zum globalistischen Bestreben, den historisch entstandenen Nationalstaat in forciertem Tempo aufzulösen.
Wird fortgesetzt.
Schlagwörter: Alexander Rahr, G-20, G-8, Russland