von Edgar Benkwitz
Das Geschehen in Afghanistan wird durch die Aufnahme offizieller Gespräche zwischen den USA und den islamistischen Taliban auf neue Gleise geschoben. Doch wohin die Reise geht, ist bisher weitgehend in Dunkel gehüllt, tasten sich die Akteure doch erst einmal ab. Als dritter Beteiligter im Ringen um die Zukunft Afghanistans ist die gewählte Regierung in Kabul unter Präsident Hamid Karzai vorerst ins Hintertreffen geraten.
Noch am 18.Juni hatten NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen und Karzai in Kabul verkündet, dass fortan afghanische Kräfte die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernehmen. Auf der gleichen Veranstaltung wurde die Delegation des „Hohen Friedensrates“, dem Politiker und Vertreter der Zivilgesellschaft angehören, vorgestellt. Sie soll Gespräche mit den Taliban führen.
Doch nur einen Tag später demonstrierten diese mit der Eröffnung einer Vertretung in der Hauptstadt Katars, Doha, wie sie über die Zukunft denken. Ihr Büro nannten sie „Politisches Büro des Islamischen Emirates von Afghanistan“ (das war die Staatsbezeichnung während der Taliban-Herrschaft in Kabul von 1996 bis 2001) und hissten dazu ihre Flagge. Ihr Sprecher erklärte, dass die Taliban zunächst nur mit den USA verhandeln würden, erst dann seien Gespräche mit „allen afghanischen Gruppierungen“ vorgesehen.
Empört reagierte darauf Präsident Karzai, der darin eine „Botschaft von Krieg und Blutvergießen“ sah. Er rief seine Delegation zurück und setzte vorerst die Verhandlungen mit den USA über ein Sicherheitsabkommen aus, das vor allem den Status der verbleibenden US-Militärs nach 2014 regeln soll. Zwar wurden eine Woche später zwischen Washington und Kabul die Wogen wieder etwas geglättet, die Hauptdifferenzen bestehen aber fort. Die Taliban mussten die provozierende alte Staatsbezeichnung und Staatsflagge entfernen, ihre Programmatik änderten sie jedoch nicht. Offizielle in Kabul bezichtigten die USA, in Doha quasi die Etablierung einer Exilregierung der Taliban zugelassen zu haben.
Die Aufnahme von Gesprächen zwischen den USA und deren Erzfeind, den Taliban, unter Umgehung der Regierung in Kabul stellt in der Tat eine Zäsur dar. Denn diese werden nun auch auf politischer Ebene als gestaltende Kraft in Afghanistan anerkannt. Priorität für die USA hat dabei in erster Linie der sichere und störungsfreie Rückzug der Kampftruppen, der von den Taliban garantiert werden soll. Welche Zugeständnisse die USA dafür zuzugestehen bereit sind, wird die weitere Entwicklung zeigen. Früher verkündete hehre Ziele, die Zukunft Afghanistans betreffend, sind ganz offenkundig in den Hintergrund gerückt; zu unwichtig ist angesichts sogenannter neuer Herausforderungen der Kampfplatz Afghanistan geworden. Zudem sind tatsächliche Fortschritte bei der weltweiten Terrorbekämpfung nicht zu verzeichnen, und die Kritik an den zahlreichen Opfern sowie den horrenden Ausgaben nimmt auch in den USA weiter zu.
Die Taliban nutzen den gewonnen Spielraum bereits jetzt kräftig aus. Der Leiter des Doha-Büros, Muhammad Naeem, winkte gar mit einem Waffenstillstand, solange die Gespräche mit den USA andauern. Und sein Sprecher, Shaheen Suhail, sprach vom Aufbau von Vertrauen mit den USA, das in einer engen Zusammenarbeit münden könnte. Selbst der Einsatz von US-Beratern und Ausbildern für die afghanische Armee sei denkbar. „Wir brauchen diese Zusammenarbeit“, so Suhail.
Eine der treibenden Kräfte beim gegenwärtigen Vorgehen der USA ist Pakistan. Es will künftig die Machtverhältnisse in Afghanistan entscheidend beeinflussen, was mittels der Taliban bewerkstelligt werden soll. Eine pakistanische Zeitung sprach unverblümt davon, dass US-Außenminister John Kerry und der starke Mann Pakistans, Armeechef Ashfag Kayani, die alte Bekannte sind, vereinbart hätten, Karzai auszumanövrieren. Wahr oder unwahr, indischen Medien zufolge haben alle Mitarbeiter des Taliban-Büros in Doha enge Verbindungen zum pakistanischen Establishment. Zudem leben ihre Familien in Pakistan. Dazu passt auch, dass ranghohe Taliban-Vertreter, die für einen Dialog mit Kabul eintreten, seit Jahren in pakistanischen Gefängnissen sitzen. Vergeblich forderte Karzai ihre Freilassung und Teilnahme an einem gesamtafghanischen Dialog.
Seit den neuen Entwicklungen schrillen besonders in Indien die Alarmglocken. Das Land hat sehr gute Beziehungen zu Präsident Karzai und in Afghanistan umfangreich investiert. Doch vor allem fürchtet es durch eine Stärkung der islamistischen Kräfte westlich seiner Grenzen um seine Sicherheit. Außenminister Salman Kurshid erinnerte an die „roten Linien“, die die internationale Gemeinschaft sich gegenüber Afghanistan einstmals gesetzt hatte. Er forderte, dass Friedensinitiativen nur von Afghanistan ausgehen und durchgesetzt werden sollten. US-Außenminister Kerry, der jüngst zu einem Sicherheitsdialog in Indien weilte, sah sich unangenehmen Fragen ausgesetzt. Denn es gibt Hinweise, dass auch die afghanische Haqqani-Gruppe an den Gesprächen mit den USA teilnimmt. Diese Gruppe ist mit den Taliban verbündet, auf ihr Konto gehen ungezählte Attentate und Anschläge. Sie hatte auch die Angriffe auf die indische Botschaft in Kabul ausgeführt, bei denen 2008 und 2009 zahlreiche Menschen ums Leben kamen..
Quo vadis, Afghanistan? Diese Frage stellen sich viele Beobachter. Es muss befürchtet werden, dass die USA den Taliban, einschließlich ihrer islamistisch-militanten Teile, den Weg bereiten, um sich wieder in Kabul zu etablieren. Das zerrüttete Verhältnis Washingtons zum ungeliebten Präsidenten Karzai wirft weitere Fragen auf. Und es drängt die Zeit, denn die fast 100.000 Mann zählenden Kampftruppen von NATO und ISAF sollen Ende 2014 abgezogen sein. Für die Zeit danach hat die NATO vorgesehen, 8.000 bis 12.000 Soldaten in Afghanistan zur Ausbildung, Beratung und Unterstützung der Sicherheitskräfte zu belassen. Allerdings fehlt bisher das erforderliche Truppenstatut dafür, also ein Vertrag, der Standorte, Aufgaben und juristischen Schutz für diese Kräfte – einschließlich der deutschen – garantiert. Hinzu kommt die Neuwahl des afghanischen Präsidenten im April 2014, die durch die neuen Entwicklungen natürlich mit Fragezeichen besetzt ist. Bis dahin werden die Taliban durch die Gespräche mit den USA weiter aufgewertet sein. Ihr wachsender Einfluss kann sich insbesondere in den Sicherheitskräften, aber auch in Regierungsinstitutionen, verheerend für Karzai auswirken. Und dann gibt es natürlich noch die einflussreichen Stammes- und Clanführer, einige von ihnen als frühere Milizenführer und Kriegsherren (warlords) bekannt. Sie haben sich noch immer auf die Seite des Stärkeren begeben und werden einem geschwächten Präsidenten kaum die Treue halten. Nicht ausgeschlossen ist, dass sie sich wieder zu Kriegsherren in ihren Einflussgebieten aufschwingen und das Land zusätzlich mit Elend und Leid überziehen.
Befremden ruft in diesem Zusammenhang das Bemühen offizieller deutscher Stellen um genau diese warlords hervor. Die taz berichtete kürzlich, dass einige dieser „Herren“ sich des Öfteren zu Krankenhausaufenthalten und Konferenzen in Deutschland aufhierlten. Einer der reichsten und zugleich gefürchtetsten Männer Afghanistans, Mohammed Fahim, gegenwärtig Vizepräsident des Landes, ließ sich wiederholt im Bundeswehrkrankenhaus – wie es heißt – auf (deutsche) Staatskosten behandeln. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch listet ihn als brutalen Menschenrechtsverletzer. Das gleiche gilt für den früheren Milizenführer Rashid Dostum, der zur Behandlung in der Eifel weilte. Wird hier von deutscher Seite versucht, sich das Wohlverhalten zwielichtiger Gestalten zu erkaufen?
Angesichts der düsteren Perspektiven sind flotte Sprüche wie „Deutschland wird am Hindukusch verteidigt“ längst nicht mehr zu hören. Stattdessen gab die FAZ dieser Tage einem Kommentar zur aktuellen Lage in und um Afghanistan den Titel „Prinzip Hoffnung“ und darin der Erwartung Ausdruck, dass sich die „Moderaten“ unter den Taliban gegen islamistische Fanatiker und Kriegsgewinnler durchsetzen mögen. Hier dürfte sich das Blatt, wie so oft Afghanistan betreffend, täuschen.
Schlagwörter: Afghanistan, Edgar Benkwitz, Indien, USA