16. Jahrgang | Nummer 14 | 8. Juli 2013

„Mit beiden Augen“

von Renate Drommer

Drei Worte nur, so einfach wie hintersinnig. Der Meister suchte ein Motto für seine Rubrik auf Seite 22 der Zeitschrift Wochenpost.
„Dieser Titel ist mir an einem Spätherbstabend des Jahres 1968 eingefallen. In der U-Bahn kurz vor Stadtmitte.“ Eintausend Feuilletons schrieb und veröffentlichte er unter diesem, seinem Markenzeichen. Eine Leserin aus Bautzen nannte es „Das Lächeln der Zeitung“.
Die Eingeweihten wissen Bescheid. Sie kennen den Namen des Meisters, sie besitzen mindestens ein, zwei oder sogar noch mehr seiner Bücher. Sie kennen auch die viel gelesene Zeitschrift, für die er 23 Jahre lang gearbeitet hat und die, ein Kind der Ereignisse des 17. Juni 1953, im kleineren Teil Deutschlands mit seinen 17 Millionen Einwohnern eine Auflagenhöhe von 1,3 Millionen erreichte. Im Dezember des Jahres 1996 wurde sie sang- und klanglos abgewickelt. In der DDR zahlte man 30 Pfennige für 48 Seiten der inhaltsreichen Familienzeitschrift. Sie war so beliebt, dass sie unterm Ladentisch gehandelt wurde. Der größte Teil ging im Abonnement weg.
Der Titel „Mit beiden Augen“ wurde zum Programm. „Nach und nach zeigte sich, was in den drei Worten steckt. Plastisches Sehen, weites Blickfeld. Man kann blinzeln, ein Auge zukneifen, ein Auge zudrücken. Oder alle beide. Zu Auburtins zehntem Todestag hatte es geheißen: „Er trug auch jenes zweite Auge, das die Welt schafft. Darin liegt die Forderung.“ Victor Auburtin, bei dem der Meister in die Schule ging. Bei ihm lernte er, was den guten Feuilletonisten auszeichnet. Zum Beispiel, der erste Satz. „Mißtraut den Grünanlagen“ ist so ein erster Satz, der es in sich hat. Mit ihm beginnt der Meister sein Buch über Moses Mendelssohn, eine Spurensuche. Oder: „Alles kommt zu dem, der warten kann“. Und er behielt Recht. Geduldig wartete er in seinem Dresdner Grab. Nun, zum 10. Todestag, am 24. Juli 2013 bekommt er eine Berliner Gedenktafel, angebracht dort, wo er in der Masurenstraße 4 in Pankow lebte, arbeitete und starb: der Feuilletonist und Schriftsteller Heinz Knobloch.
„Was unsere Rubrik auszeichnete, ist eine Betonung des mittleren Wortes, denn durch Wolfgang Würfels beide Augen kam etwas hinzu, das es meines Wissens in der deutschsprachigen Presse so noch nicht gegeben hat.“ Wolfgang Würfel lieferte jede Woche eine grafische Kostbarkeit zu Knoblochs feinsinnigen Texten. Wie das funktionierte? „Ja, wie? Ich begegnete dem freundlich stillen Wolfgang Würfel an die sieben oder acht Mal im Jahr – und gerade dann hatte es stets einer von uns beiden eilig. Ich sah sein Werk als Fertiges. Würfel hat einmal in einem Interview erklärt: ‚Der Kno red’t nicht rein.’.“ Kno, so nannten ihn seine Freunde und die Kollegen von der Wochenpost. Es war das Kürzel seines Namens, mit dem er die Unterschriften auf den Fotos beim Illus-Bilderdienst abzeichnete.
Als Heinz Knobloch 1948 mit 22 Jahren aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft nach Berlin heimkehrte, konnte er nicht viel mehr vorweisen als ein Englisch-Diplom und eine Menge Lebenserfahrung. In der Gefangenschaft (er war 1944 in der Normandie bei St. Lo desertiert) hatte er auf den Feldern von Alabama und anderswo in den USA gearbeitet. In Kreuzberg wohnte er wieder bei seinen Eltern, fand jedoch keine Arbeit. Ein Bekannter gab ihm den Tipp, sich beim Berliner Verlag im Ostteil Berlins zu bewerben. Knobloch begann seine Karriere ganz unten, als Bürohilfe, gehörte später zum Gründungsteam der Wochenpost, wurde schließlich Wort-Redakteur und ab 1957 Chef des Feuilletons. Die eigene Rubrik übernahm er 1968. Nach 20 Jahren machte er Schluss. „Tausend Mal ‚Mit beiden Augen’ das ist genug. Man muß auch aufhören können, beizeiten.“ Eine gelungene Pointe krönt jedes gute Feuilleton.
Rolf Pfeiffer, Knoblochs Kollege bei der Wochenpost, erinnert sich: „Es ist niemals in all den Jahren vorgekommen, dass kein Feuilleton da war. Obwohl Knobloch auch Urlaub machte oder mal krank war. Er hatte immer Vorräte im Schubfach.“
Woche für Woche schrieb er ein Glanzstück der kleinen literarischen Form. Er betätigte sich als Herausgeber, holte die Texte von Victor Auburtin und anderer Feuilletonisten der zwanziger Jahre aus der Vergessenheit ans Licht. Als Knobloch erfuhr, dass die Liegezeit seines verehrten Lehrers Auburtin auf dem Friedhof in Österreich abgelaufen war, ließ er nicht locker, bis dessen Grabstein zu ihm nach Berlin kam, in die Pankower Wohnung.
Danach befragt, warum er das Feuilleton bevorzugt, antwortete er:„Das ist eine Spezialität, die ich kann. Ich muss nicht die Zahl der Romanautoren vermehren im Lande, sondern ich muss das Ding pflegen und es durchsetzen.“ Das Feuilleton galt in der DDR als bürgerlich und war unerwünscht. Knobloch hat es unter die kleinen Leute gebracht. Dafür liebten sie ihn. Rolf Pfeiffer: „Ehe er etwas schrieb, überprüfte er es nach allen Regeln der Kunst. Das ging bis ins Kleinste. Als er über die Dresdner Eierschecke schrieb, da beauftragte er seinen Freund Klaus Rebelsky, der in früher Jugend mal Bäcker gelernt hatte, ehe er Schuldirektor wurde, nach verschiedenen Rezepten, über die er dann schrieb, diese Eierschecken zu backen.“
Er war ein Flaneur, immer unterwegs, mit beiden Augen suchend, wach, stets dem verdeckten Detail auf der Spur, dem verborgenen Fakt, aus dem sich eine überraschende Story machen lässt. „Eines Tages erfuhr ich beim Optiker, ich hätte zwei verschiedene Augen. Das eine sieht kurz, das andere weit, na bitte.“
Wenn Fakten, Zusammenhänge und Details so überbordeten, dass sie nicht in ein Feuilleton passten, schrieb Knobloch Bücher, auch das konnte er. „Herr Moses in Berlin“ beispielsweise oder „Meine liebste Mathilde“ über die Sekretärin von Rosa Luxemburg oder „Der beherzte Reviervorsteher“, ein Loblied auf den mutigen Polizisten, der den Brand der Berliner Synagoge 1938 verhinderte. Seine Bücher waren eigentlich nichts anderes als viele, einzelne, ineinander geschachtelte Feuilletons.
Ein Meisterstück Knoblochscher Kunst ist die Beschreibung der Ankunft des jungen Moses Mendelsohn in Berlin, der zu Fuß aus Dessau kommend, von einem Stadttor zum nächsten geschickt wird, bis er dort anlangt, wo es den Juden erlaubt ist, die Stadt zu betreten, wenn es ihnen denn erlaubt wird, sie zu betreten. Anhand eines Stadtplanes lässt er uns den Weg des 14-jährigen Moses um die Stadt herum mitgehen. Wir begreifen, was es 1743 bedeutete, Jude zu sein, ein Jude in der preußischen Hauptstadt des jungen Königs, der von sich behauptete, er wäre ein aufgeklärter Herrscher. Eine Irreführung, wie sich schon bald heraus stellen sollte.
Knobloch und seine Kollegen von der Wochenpost bezogen 1973 ein neues Domizil. Sie saßen jetzt in der 10. Etage des Berliner Verlagshauses am Alexanderplatz. Dort engagierten sie sich für ihre „Familien-Zeitschrift“. Auf der letzten Seite stand der Gerichtsreport von Rudolf Hirsch. Rosemarie Rehan lieferte die Filmrezension, die außenpolitischen Seiten verantwortete Klaus Polkehn, Horst Ritter redigierte die Schachspalte. Rolf Pfeiffer war für die Reportage auf Seite 18 zuständig. Er erzählt: „Das war ja ein geübter Leserkreis im Zwischen-den-Zeilen-Lesen, für den wir schrieben. Und das war eigentlich unsere Kunst, um die wir uns bemühten. Und da war Kno, der Schwejk, ein Meister drin. Er hatte ja eine schwejksche Natur.“ Die nahe Verwandtschaft zu Schwejk zeigte sich darin, dass Heinz Knobloch ihn als Großvater adoptiert: „Universeller Schwejk, der siegt, weil er der unüberwindlichen Macht keinen offenen Widerstand leistet, sondern immer Zusammenarbeit anbietet, sie aber trotz größter Anstrengung nie leistet. Und den Feind überleben. Was nützt einem schon der Tod?“
Knobloch hat sich nie reinreden lassen in seine Arbeit. Besser als jeder anderer kannte er die Zusammenhänge und Fakten, über die er gerade schrieb. Wenn etwas nicht genehm war, legte er es beiseite und wartete auf die passende Gelegenheit. Er schrieb nur, was ihm Spaß machte, Er liebte die leisen Töne, die heitere Ironie, die anspielungsreiche Doppelbödigkeit. „Aber auch für Spaß muss man bezahlen. Die Währung heißt manchmal Kompromiss, manchmal Gesundheit, manchmal Schweigen. Unter dem Zwang, pro Jahr 52 Ideen zu haben. Dieser Zwang war Vergnügen. Davon wurden 97,77 Prozent gedruckt.“ Zu den 2,23 Prozent, die nicht gedruckt wurden, gehörte die wichtige Erzählung: „Neun Tage vor meiner ersten Nierenkolik“. Sie wurde kurz nach dem Mauerbau geschrieben und erzählt vom Zwangsumzug der Bewohner eines Hauses im Grenzbereich und dem Gefühl des literarischen Ich, das daran beteiligt ist.
Die Berliner Gedenktafel für Heinz Knobloch, die an seinem 10. Todestag, dem 24. Juli, enthüllt werden wird, ist eine schöne Geste, eine verdiente Ehrung. Doch so mancher, der vor der Tafel steht, wird sich wundern. Handelt es sich wirklich um unseren Kno, den berühmten Feuilletonisten der Wochenpost? Hatte der für seine Arbeit nicht Preise bekommen, die einen guten Namen führen: Heine, Feuchtwanger und Goethe? Davon wollte die Historische Kommission zu Berlin, die über den Tafeltext zu befinden hatte, nichts wissen. Sie stellt Heinz Knobloch in die Tradition der Berliner Aufklärung. Er, der sich immer gegen Vereinnahmung gewehrt hat, wird in eine Schublade gesteckt. Wehren kann er sich nicht mehr. Aber fragen wird man ja noch dürfen. Berliner Aufklärung, was ist das? In die Tradition des Preußenkönigs, den Knobloch respektlos Eff Zwei nannte, wird er sich wohl kaum gern gestellt sehen. Friedrich II., der dem Dichter Lessing eine auskömmliche Anstellung an seiner Königlichen Bibliothek verwehrte, so dass der sich immer nur vorübergehend in Berlin aufhalten konnte. Eff Zwei, der den Philosophen und Juden Moses Mendelssohn nicht in seine Königliche Akademie aufnahm und ihm das Schutzrecht nur für die eigene Person gewährte, nicht aber für Frau und Kinder. Das alles hat Knobloch aufs Genaueste, Steinchen für Steinchen aufgedeckt und beschrieben, die ganze komplizierte Sachlage – nun unter dem Begriff Berliner Aufklärung subsumiert.
In einer Linie mit Lessing und Mendelsohn zu stehen, das ist schon was! Ein Bezug, der Knobloch ehrt.
Auch Verleger Friedrich Nicolai hatte gewiss große Verdienste. Er hat sich jedoch mit vielen Kompromissen auf die wechselnden Zensurgesetze seines Herrschers einstellen müssen. Und war sein Begriff von Aufklärung nicht bisweilen von so engstirniger Penetranz, dass sich Goethe, und nicht nur er, über ihn lustig machte?
Wenn man den Meister schon unbedingt in eine Traditionslinie stellen will, warum dann nicht in die Tradition des klassischen literarischen Feuilletons und der von ihm so geschätzten und verehrten Feuilletonisten Victor Auburtin, Alfred Kerr, Daniel Spitzer, Karl Erich Franzos, Alfred Polgar, Karl Kraus, Kurt Tucholsky?
Das wäre so sinnreich und einfach wie der Titel, den Knobloch für seinen Kolumne in der Wochenpost gefunden hat: „Mit beiden Augen“.
Allerdings vor die Wahl gestellt, entweder die Tafel mit dem Text, den die Historische Kommission zu Berlin abgesegnet hat, oder keine, reagieren wir, die Knoblochfans und seine Verehrer pragmatisch. Das haben wir ja erlernt in jahrelangem Umgang mit den DDR-Behörden.
Knobloch amüsiert sich vermutlich über das „Stäubchen Aufwirbeln“ um die Gedenktafel. Er wird es überleben in seinem Familiengrab in Dresden.

Die Gedenktafel wird am 24. Juli 2013, dem 10. Todestag, um 15 Uhr am Wohnhaus von Heinz Knobloch in der Masurenstraße 4 in Pankow enthüllt.
Bereits am 10. Juli 2013 sendet das Kulturradio vom
RBB um 22.04 Uhr das Feature: „Mit beiden Augen“ von Renate Beckmann.