von Stefan Bollinger
Vor 69 Jahren, am 1. August 1944, erhoben sich in Warschau polnische Patrioten – mühsam vereint über politische Gräben – unter dem Kommando der Heimatarmee zu einem Kampf gegen die deutschen Besatzer. Es war der zweite Aufstand in dieser Stadt innerhalb von 16 Monaten. Bereits 1943 hatten sich jüdische Kämpfer todesmutig in einen aussichtslosen und gnadenlosen Kampf gestürzt, um dem Weg in die Vernichtungslager durch den Kampfestod zu entgegen. Damals war dies ein isoliertes Ereignis in der Warschauer Altstadt, beobachtet von den Warschauern außerhalb des Ghettos, geprägt durch Gleichgültigkeit gegenüber den ungeliebten Juden, auch durch Mitleid mit den Verlorenen und bei einigen, politisch Organisierten auch durch tätige Solidarität. Bei beiden Aufständen war die Zivilbevölkerung in der Rolle des Opfers, zwischen den Fronten, fast ohne Überlebenschancen.
Auch wenn heute beide Aufstände gern im Zusammenhang und im Geiste eines polnischen Nationalismus betrachtet werden – der Aufstand von 1944 war weit prägender und belastender für die Zeitgenossen und die politischen Nachfahren. Einfache Wahrheiten gibt es, wie so oft in der Geschichte, nicht. Gerne wird heute der polnische Schriftsteller, Nobelpreisträger, aber auch Antikommunist Czeslaw Milosz aus den 1950er Jahren zitiert. „Es war der Aufstand einer Fliege gegen zwei Riesen. Der eine Riese stand hinter dem Fluss und wartete, bis der andere die Fliege zerquetscht hatte. Die Fliege verteidigte sich zwar, aber ihre Soldaten waren nur mit Pistolen, Granaten und Benzinkanistern bewaffnet. Der Riese aber schickte zwei Monate lang alle paar Minuten eine Bombenladung aus nur fünfzig Metern Höhe auf die Stadt. Er verwendete zu den Angriffen Tanks und die schwerste Artillerie. Es gelang ihm schließlich, die Fliege zu zerquetschen, aber bald darauf wurde er selbst zerquetscht, vom anderen geduldigen Riesen.“
Es ist nicht einfach für polnische Patrioten und erst recht für Linke, sich diesem ebenso heldenhaften wie verzweifelten, militärisch wie politisch zum Scheitern verurteilten Aufstand von 1944 zu stellen. Die „Schlacht um Warschau“, wie die Zeitgenossen sie damals nannten, sollte Polen wiedererstehen lassen: Einen kapitalistischen, autoritären Staat, der Linke unterdrückte, antisemitische Züge hatte, zwischen zwei Großmächten eingekeilt war – dem faschistischen Deutschland und der stalinistischen Sowjetunion.
Erstes reguläres Opfer des Zweiten Weltkriegs war dieses Polen, vom Westen im Stich gelassen, unter massiven Schlägen der Wehrmacht binnen Wochen zusammengebrochen. Sowjettruppen gaben ihm im September 1939 den Rest, zogen eine neue, vorgeschobene Grenze gegen Hitler und begannen zwei Jahre eines widernatürlichen Pakts mit dem Todfeind.
Polen war erstes Experimentierfeld zur Unterwerfung eines „minderwertigen“ Volkes durch „Herrenmenschen“. Kollaborateure hatten hier kaum Chancen, Deportationen, Zwangsarbeit, KZ-Haft, Mord standen auf der Tagesordnung, Millionen Staatsbürger jüdischer Herkunft waren dem Tod geweiht. Und doch gelang es der Exilregierung in London, mit Offizieren, Beamten, Intellektuellen, einfachen Bürgern im besetzten Land einen Untergrundstaat aufzubauen: bürgerlich, antikommunistisch, antideutsch. Kommunisten hatten wenig Spielraum, zumal die polnische KP Opfer der stalinistischen Exzesse geworden war und sich erst 1942 wieder als PPR reorganisieren konnte. Ihre Partisanen in der Armija Ludowa (AL – Volksarmee), kämpften gegen die Faschisten, waren aber schwach. Dominierend war die von London aus geführte Armija Krajowa (AK), die Heimatarmee. Sie wartete auf den Tag der Entscheidung.
Im Sommer 1944 schien der gekommen. In einer Großoperation unter dem Codenamen „Bagration“ hatten Sowjettruppen zwei Wochen nach der westalliierten Landung in der Normandie ihrer Bündnispflicht genügt: Bis zu 600 Kilometer stießen sie in Richtung Westen auf polnischem Territorium vor. Die deutsche Heeresgruppe Mitte war zerschlagen. Erste Panzer wurden im östlichen Vorfeld Warschaus gesichtet.
Das politische Konzept von AK und Exilregierung war klar. Eigentlich hofften sie auf westliche Hilfe. Wenn schon die Rote Armee gebraucht wurde, um Polen zu befreien, dann wollte man zeigen, dass die polnische Regierung die Macht ausübt. General „Bor“ Komorowski, Oberkommandierender der AK, hatte schon 1943 veranlasst, dass seine Truppen „sich eintreffenden Russen (zu) erkennen … geben. Sie werden in dieser Phase die Aufgabe haben, die Existenz der polnischen Republik durchzusetzen.“ Eine erste Praxisprobe hatte dieses Konzept in Vilnius zu bestehen. Die AK unterstützte sowjetische Verbände, die durchaus dankbar waren, aber dann dafür sorgten, dass die „Verbündeten“ entwaffnet wurden und eine sowjetisch bestimmte Ordnung durchgesetzt wurde.
Auch in dieser Zeit war die Geschichte nicht vergessen, erst recht nicht von den politischen Führern beider Seiten. Trotz der tödlichen Bedrohung durch die Faschisten lastete nicht nur ein jahrhundertelanger Konflikt auf beiden Völkern, sondern insbesondere die jüngere Vergangenheit. Vor allem die Zeit nach der Oktoberrevolution, der Ausbruch Polens aus dem Russischen Reich mit deutscher, dann alliierter Unterstützung, die Niederschlagung revolutionärer Kräfte und der Interventionskrieg waren in Erinnerung. Moskau hatte nie den polnischen Nationalismus verstanden, geschweige denn akzeptiert. Der sowjetische Versuch, die Revolution 1920 auf Bajonetten nach Polen zu tragen und die Intervention zu beenden, führte in ein militärisches Desaster und scheiterte politisch. Im östlichen Vorfeld Warschaus wurde die Rote Armee vernichtend geschlagen, im Frieden von Riga verlor Sowjetrussland einen erheblichen Teil seines Staatsgebietes.
Das Zwischenkriegspolen war ebenso nachtragend wie antikommunistisch. Selbst unter dem Eindruck von Hitlers antipolnischer Politik mochte sich die Führung auf kein kollektives Sicherheitssystem in Europa und keine militärische Garantie Polens durch die UdSSR, Frankreich und Großbritannien einlassen. Eher sympathisierten die herrschenden Obristen mit dem Diktator – nur, dass der sie nicht wollte. Nach westlicher Appeasement-Politik und dem Münchner Abkommen von 1938 entschloss sich Moskau zur Kehrtwende. Den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, das zugehörige Geheimabkommen und den Einmarsch der Sowjetarmee nach Hitlers Überfall konnten die Polen nur als ihre vierte Teilung begreifen. Katyn – heute das Synonym für jene Kriegsverbrechen, bei denen sowjetische Geheimdienstler auf höchsten Befehl Tausende polnische Kriegsgefangene, Berufs- und Reserveoffiziere, Unteroffiziere, Beamte, unter ihnen viele Intellektuelle, als potentielle Führer eines gegen die Sowjetunion gerichteten Polens erschossen – belastete die beiderseitigen Beziehung trotz gemeinsamer Zugehörigkeit zur Antihitlerkoalition. Moskau hatte angesichts polnischer Proteste die Beziehung zur Exilregierung abgebrochen. Stalin setzte vielmehr auf kommunistische Polen, die auf sowjetischem Gebiet Militärverbände aufstellten durften und am 22. Juli 1944 mit einer Erklärung als Polnisches Komitee der Nationalen Befreiung (Lubliner Komitee) demonstrierten, dass Moskau die Exilregierung und ihre bewaffneten Kräfte nicht akzeptierte. Das Komitee erklärte sich zugleich zur provisorischen polnischen Regierung.
Die neue politische Lage, die Landung in der Normandie, das Hitlerattentat, die Installierung einer faktischen Gegenregierung zum Londoner Exil und die Erfolge der sowjetischen Offensive gaben den Ausschlag für den Angriff der 40.000 Kämpfer der AK in Warschau, der sich auch 1.300 Soldaten der AL anschlossen. Nur, diese vermeintlich große Streitmacht, bei knapp 20.000 deutschen Soldaten in Warschau, hatte bestenfalls für jeden 4. oder 5. Soldaten überhaupt Waffen. Es waren erbeutete leichte Waffen, oft in deutschen Diensten stehenden ausländischen „Hilfswilligen“ abgekauft, und nur wenige Waffen aus britischer oder sowjetischer Produktion, die über die alliierte Versorgung der jeweiligen Partisanenverbände ins Land gekommen waren.
Das Nationale AK-Kommando unter General „Bor“ Komorowski gab den Angriffsbefehl. Der war zwar mit der Exilregierung abgestimmt, aber nicht mit der Sowjetarmee. Selbst die Westalliierten waren überrascht. Die Panzer vor Warschau erwiesen sich als Chimäre, denn vier deutsche Panzerdivisionen konnten die abgekämpften sowjetischen Truppen zurückwerfen. Es blieb für die Warschauer ein Kampf auf verlorenem Posten. Die sowjetischen Erklärungen, dass ihre Truppen keine Kraft für eine neue Flussquerung hatten, sind glaubhaft, trotz aller gegenteiligen Behauptungen. Ebenso die Einsicht, dass Stalin kein Interesse an einem Erfolg der AK hatte und dafür schon gar keine Risiken eingehen wollte. Es blieb bei einigen Luftwaffeneinsätzen und Verbindungsoffizieren. Westalliierte Hilfsangebote für eine Luftbrücke blieben praktisch ohne Wirkung. Die Reichweite der Flugzeuge war kaum ausreichend, die sowjetische Seite stellte kaum Ausweichflugplätze bereit. Die Stoßrichtung der Sowjettruppen verlagerte sich insgesamt in Richtung Balkan.
Erst im September werden vor Warschau wieder aktive Handlungen aufgenommen, am 14. der östlich der Weichsel gelegene Stadtteil Praga erobert. Einheiten der auf sowjetischer Seite kämpfenden 1. Polnischen Armee forcieren in diesen Tagen die Weichsel, eroberten kleinere Brückenköpfe. Eine Vereinigung mit den bereits dezimierten Warschauer Kämpfern misslingt. Der Vorstoß bleibt eine symbolische Aktion, die angeschlagenen Truppen müssen sich wieder absetzen.
Gut zwei Monate halten sich Warschaus Kämpfer unter großen Verlusten, 15.000 fallen. Schlimmer ist, dass die faschistische Führung die Gelegenheit nutzt, um mit den Polen abzurechnen. Jeder Gefangene muss mit dem Tod rechnen. Besonders schwer trifft es die Zivilbevölkerung. Massenexekutionen finden statt – mindestens 150.000 Zivilisten werden ermordet. Ein Führerbefehl verlangt die „Niederlegung Warschaus“, und durch massiven deutschen Militäreinsatz mit SS-Verbänden, mit schweren Waffen und immer wieder mit Sprengkommandos wird die Stadt praktisch vollständig zerstört.
Am 3. Oktober muss das AK-Kommando mit 16.000 Soldaten kapitulieren. Immerhin, die Deutschen akzeptieren den Kombattantenstatus ihrer Gegner, die Ghetto-Kämpfer im Jahr zuvor hatten nicht einmal diese Chance. Trotzdem, ein fast einmaliger Vorgang im Partisanenkrieg damals. Insofern haben die polnischen Führer auch ihre Ehre gewahrt, aber um welchen Preis! Erst im Januar 1945 ziehen sowjetische und polnische Truppen endlich in Warschau ein.
Der Konflikt von 1944 bestimmt bis heute den Geschichtsstreit. Jede Parteinahme ist politisch. Ein leichtsinniger, gar verbrecherischer Befehl verblendeter Politiker und Generäle, die Warschau der Vernichtung preisgaben? Oder sowjetischer Verrat? Zudem: Kämpfer der AK hatten in Volkspolen lange keine Lobby. Die kommunistische Führung vergaß ihnen nicht die politische Ausrichtung, die Angriffe auf die AL, den Untergrundkrieg gegen die Rote Armee in Teilen des Landes. Auch wenn nur eine kleine Zahl von AK-Aktivisten darin verstrickt war, galten sie insgesamt als Gegner der neuen Ordnung. Erst in Solidarnosc-Zeiten bekamen die Aufständischen von 1944 die gesamtgesellschaftliche, nun auch politische Anerkennung, die ihnen zustand.
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