von Mathias Iven
Neben großangelegten biographischen Arbeiten beschert uns das Wagner-Jahr 2013 auch einige kleinere Schriften, die sich ausschließlich mit Wagners Lebensstationen befassen. Denn obgleich etliche Jahrzehnte ins Land gegangen sind, so kann man doch auch heute noch an zahlreichen Orten seinem Werden und Wirken nachspüren.
Als Einstieg sei auf eine Broschüre von Ulrike Eichhorn verwiesen. Lässt man die Illustrationen, den beigegebenen Lebenslauf und die Übersicht zu den zwischen 1831 und 1849 entstandenen Werken außer acht, so genügen der Autorin nicht einmal 10 Seiten, um einen Überblick zu fast allen Wohnstätten Wagners in Sachsen zu vermitteln. Den aufgelisteten Adressen sind sparsame Kommentare und passende Wagner-Zitate oder Auszüge aus Carl Friedrich Glasenapps Wagner-Biographie beigegeben, nicht zu vergessen die GPS-Daten – ein vielleicht ungewöhnlicher, aber im Falle von nicht mehr existenten Gebäuden nützlicher Service, der die leider fehlenden aktuellen Adressangaben ersetzen muss.
Wer – von solcherart Zusammenschau inspiriert – mehr zu einzelnen Örtlichkeiten wissen möchte, dem sei Ursula Oehmes Buch über Wagners Geburtsstadt Leipzig empfohlen. In einer ganz eigenen Art hat Oehme Wagners Äußerungen zu seinen Lebensumständen der Jahre 1828 bis 1834 hinterfragt und auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft. Dass eine derartige Gegenüberstellung von persönlichen Erinnerungen und offiziellen Dokumenten Neues zu Tage fördert und manch neue Sichtweise eröffnet, muss nicht extra betont werden. Immerhin hat es mehr als neun Jahrzehnte gedauert, bis „Wagner und Leipzig“ wieder zum Thema wurde. Zuletzt hatte sich Walter Lange 1921 mit diesem für Wagner so wichtigen Lebensabschnitt eingehender beschäftigt.
Das für die Forschung wichtigste Verdienst von Ursula Oehme liegt wohl in der Tatsache, „umfänglich die familiären Verhältnisse Richard Wagners in den Kontext der politisch-militärischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des in seinem Entwicklungstempo atemberaubenden 19. Jahrhunderts“ gestellt zu haben, so Thomas Krakow, der Vorsitzende des Leipziger Wagner-Verbandes, in seinem Geleitwort. Denn Oehmes Spurensuche, die sich vor allem auf die bisher weniger beachteten Kinder- und Jugendjahre Wagners konzentriert, macht den Interessierten nicht nur mit dessen Eltern und Geschwistern bekannt, sie führt auch zur Brockhaus-Verwandtschaft oder zu Wagners Kompositionslehrer, dem Thomaskantor Christian Theodor Weinlig. Anhand der ersten dichterischen und musikalischen Versuche wird außerdem der Einfluss des kulturellen Klimas von Leipzig auf Wagners späteres Schaffen belegt. Nicht zu vergessen die Untersuchung der Frage, warum man sich dort anfänglich so schwer mit der Aufführung von Wagners Opern getan hat. Wagner selbst hatte gehofft, dass Leipzig als die „Brütstätte“ seiner „phantastisch-musikalischen Studien“ seinen Ruf als Komponist begründen würde, doch keine seiner Opern sollte hier uraufgeführt werden …
Wenn nach gut 130 Seiten Theorie der Wunsch wach wird, Wagners Lebenswelt auch hautnah nachzuempfinden, dann hilft der abschließende, nicht nur das touristische Interesse bedienende Teil von Oehmes Buch. Man sucht in Leipzig zwar vergeblich nach dem Geburtshaus, auch ein Wagner-Museum findet man dort (noch) nicht. Dennoch lassen sich gut zwei Dutzend Orte ausfindig machen, die an den Komponisten und damit an ein wichtiges Kapitel Leipziger Musikgeschichte erinnern. Mit den beigegebenen Karten und den detaillierten Beschreibungen wird ein Rundgang auf Wagners Spuren zu einem kleinen kulturhistorischen Aha-Erlebnis.
Ortswechsel. – „Richard Wagner ist ein Mythos! Nicht nur in Dresden – aber hier, wo er über zwanzig Jahre seines Lebens zubrachte, haben viele Begebenheiten aus seinem Leben mythische Züge angenommen.“ Da Wagner mit der zu seinen Lebzeiten nur als Privatdruck veröffentlichten Autobiographie Mein Leben daran nicht ganz unbeteiligt war, sahen sich die Macher einer Ausstellung mit dem Titel „Richard Wagner in Dresden – Mythos und Geschichte“ einer besonderen Herausforderung gegenüber. Dass das Team des Dresdner Stadtmuseums ganze Arbeit geleistet hat, dokumentiert der exzellent gestaltete und reich bebilderte, im Sandstein Verlag veröffentlichte Begleitband.
Zwischen 1814 und 1827 verlebte Wagner einen Großteil seiner Kindheit in Dresden. Hier besuchte er die Kreuzschule, wurde konfirmiert und zog mit der Familie mehrfach um. Es schlossen sich fünfzehn Jahre der Wanderschaft mit Stationen in Leipzig, Würzburg, Magdeburg, Königsberg und Riga an. Kurz nach seiner Rückkehr aus Paris, wo er seit 1839 mit seiner Frau Minna gelebt hatte, und noch vor der Berufung als Hofkapellmeister im Februar 1843, wurden seine Opern Rienzi und Der Fliegende Holländer in Dresden uraufgeführt, im Oktober 1845 sollte die Uraufführung des Tannhäuser folgen. Als „Hofkapellmeister im Dresdner Allerlei“, so Reiner Zimmermann in seinem Beitrag, entfaltete Wagner in den sechs Jahren seiner musikalischen Führungstätigkeit nicht nur eine breite Öffentlichkeitsarbeit, er profilierte sich vielmehr zugleich „auf dem Dirigentenpult, indem er sich nicht als Verwalter, sondern als Gestalter der musikalischen Vorgänge verstand“.
Wagner entwarf in Dreden die Meistersinger, und es entstand die Textdichtung Siegfrieds Tod. Anregungen für sein Schaffen fand er oft genug in der Umgebung Dresdens. Mehrfach ließ er sich von seinen Amtspflichten beurlauben, um in ländlicher Abgeschiedenheit zu komponieren. Zu den im Band dokumentierten „Refugien der Inspiration“ zählte auch das östlich von Dresden gelegene Graupa. In einem unscheinbaren, dem Großbauern Johann Gottlob Schäfer gehörenden Wohn-Stall-Gebäude entstanden 1846 die ersten Skizzen zum Lohengrin, der 1859 seine Dresdner Erstaufführung erlebte. Grund genug dafür, dass 1907 in dem seither als „Lohengrin-Haus“ bekannten Gebäude eine der ersten ständigen Wagner-Ausstellungen weltweit eröffnet wurde. Wer sich für die näheren Umstände dieser musealen Großtat interessiert, sollte unbedingt einen Blick in den schon vor einiger Zeit im Archiv der Stadt Pirna entdeckten Zeitzeugenbericht von Sizzo Stief werfen. Die sehr persönlichen Aufzeichnungen dokumentieren nicht nur die Rettung des Lohengrin-Hauses, sondern berichten auch von der Aufstellung des bereits 1911/12 von Richard Guhr entworfenen, jedoch erst am 21. Mai 1933 eingeweihten und mit über 12 Meter Höhe größten Wagner-Denkmals der Welt im unweit des Hauses gelegenen Liebethaler Grund.
„Wagner für alle Zeiten: Zwischen Vereinnahmung und kritischer Würdigung“, so ist der letzte, den Ausstellungsband abschließende Teil überschrieben. Im Zentrum steht die Betrachtung der mit Dresden verknüpften Ereignisse, so die Parsifal-Erstaufführung des Jahres 1914, der Jubiläumssommer 1933 und die darauffolgende 1. Reichs-Theaterfestwoche (1934) sowie die Wagner-Ehrungen der Jahre 1963 und 1983. Ergänzt wird diese Dokumentation durch einen Beitrag von Udo Bermbach, der nach „Größe und Widerspruch“ in Wagners Leben und Werk fragt. „Wer immer sich Wagner nähert, kritisch oder verehrend, der muss“, so Bermbach, „den außergewöhnlichen Rang dieses Menschen eingestehen.“ Selbst wenn sein Denken zum „Ausgangspunkt einer schiefgelaufenen Rezeption“ wurde, so steht dem gegenüber doch das zeitlos Emotionale seiner Musik, „die ganz ohne alle theoretischen Vorkenntnisse die Menschen mitnimmt in eine andere Welt“.
Ulrike Eichhorn: Richard Wagners Wohnorte in Sachsen 1813–1849, edition eichhorn / epubli, Berlin 2013, 20 Seiten, 7,50 Euro.
Ursula Oehme: Richard Wagner und Leipzig, Lehmanns Media, Berlin 2013, 160 Seiten, 14,95 Euro.
Richard Wagner in Dresden – Mythos und Geschichte. Im Auftrag des Stadtmuseums Dresden herausgegeben von Erika Eschebach und Erik Omlor, Sandstein Verlag, Dresden 2013, 168 Seiten, 25,00 Euro.
Sizzo Stief: Das Lohengrinhaus in Graupa und das Richard-Wagner-Denkmal im Liebethaler Grund, edition eichhorn / epubli, Berlin 2010, 75 Seiten, 9,95 Euro.
Schlagwörter: Mathias Iven, Richard Wagner