von Herbert Bertsch
Mein 17. Juni 1953 begann wie andere Arbeitstage in der Redaktion der Sächsische Zeitung in Dresden ohne Auffälligkeiten; weder der Fernschreiber mit ADN-Verbindung noch die Telefonleitung zur Abteilung Presse/Rundfunk des ZK der SED gaben Signal.
Am späten Vormittag erreichte mich als Chef vom Dienst ein Anruf aus der im Zentrum befindlichen Stadtredaktion, wonach es dort zu größeren Personenansammlungen komme. Etwa zeitgleich hörten wir in der Redaktion per Rundfunk von besonderen Ereignissen in Berlin – ohne Beschreibung oder Analyse und offenbar auch ohne führende Rolle der Partei. Hatte das eine mit dem anderen möglicherweise etwas zu tun?
Ich fuhr zur Bezirksleitung der SED und fand den für Agitation – und damit auch für die Sächsische Zeitung – zuständigen Sekretär Wolf in seinem Dienstzimmer: untätig, seinerseits nervös irgendwelcher Informationen oder Weisungen harrend; aber ersichtlich ohne Kenntnis vom Geschehen in „seinem“ Bezirk.
Also fuhr ich un-angeleitet wieder zurück und schickte einige Mitarbeiter als Augen- und Ohrenzeugen in die Stadt. Dem inzwischen von einer Dienstreise zurückgekehrten Chefredakteur schlug ich vor, auf die Herausgabe der für den 18. Juni vorbereiteten Zeitung zu verzichten, da eine Tageszeitung ohne Bezug auf das Tagesgeschehen in dieser Situation irrational sei. Der Chefredakteur entschied später so, wohl auch nach Zustimmung aus der Bezirksleitung.
Alle entbehrlichen Mitarbeiter schickten wir nach Hause, nicht zuletzt mit dem Auftrag, anderntags verwertbare Informationen für eine nächste Ausgabe mit örtlichen Neuigkeiten mitzubringen. Einige Redakteure und eine Sekretärin blieben über Nacht in der Redaktion; dabei auch ich.
Dort erreichte mich ein Anruf meiner Frau – das war 14 Tage nach Geburt unserer Tochter. Sie berichtete von Gerüchten, in dieser Nacht würden Wohnungen von Parteifunktionären „heimgesucht“. Ähnliche Anrufe kamen auch von Angehörigen anderer Mitarbeiter. Soweit ich weiß, ist es zu solchen Ausschreitungen nicht gekommen, zumal durch den sowjetischen Stadtkommandanten ein nächtliches Ausgehverbot verhängt und durchgesetzt worden war. Die Nacht war lang, fahl – der Morgen ungewiss. Des Nachts keine Weisungen, nirgendwoher.
Am Vormittag des 18. Juni fuhr ich mit zwei weiteren Redakteuren zum „ Sachsenwerk Niedersedlitz“ – um zu verstehen, was da eigentlich los war, um zu diskutieren und um Flugblätter zu verteilen, die wir in der Nacht in eigener Regie hergestellt hatten. Deren Inhalt bildeten zwischenzeitlich eingegangene offizielle Texte, die in Sonderheit die Rücknahme nunmehr als falsch deklarierter Maßnahmen verkündeten.
Um das Werk standen sowjetische Panzerfahrzeuge, auf denen sich die untätigen Besatzungen in der Sonne sichtlich langweilten. Aus den Fenstern schauten Beschäftigte der Abend- beziehungsweise Nachtschicht, ebenfalls untätig und ähnlich gelangweilt. Vor dem Panzer-Kordon – die Leute, die planmäßig zur Frühschicht gekommen waren: „Die Russen lassen keinen rein oder raus“, informierte man uns. Wir gaben der Frühschicht unsere Flugblätter und hatten eine hitzige Diskussion. Deren Ergebnis war ein Leitartikel von mir in der Ausgabe von Freitag, dem 19. Juni 1953. Dessen Titel lautete: „ Einige Lehren aus den Vorgängen im ‚Sachsenwerk Niedersedlitz’“. Es war ein Appell an Parteifunktionäre, sorgsam der Interessen der Werktätigen zu achten, und dies als Lehre aus den Ereignissen zu ziehen.
Doch zunächst weiter zum Ablauf der Ereignisse. Die Rückfahrt von uns dreien gestaltete sich unvorhergesehen und abrupt: Die Verteilung unserer Flugblätter war dem jungen Kommandeur der Panzereinheit offenbar klärungsbedürftig. Er hieß uns auf die Pritsche eines offenen Lasters steigen, von dessen Fahrerhaus ein Maschinengewehr (mit Personal) auf die Ladefläche (mit uns als Fahrgästen) gerichtet war. Einige Zuschauer von den Fensterplätzen klatschten ob dieser Wendung des Geschehens. Glücklicherweise war das uns ungewisse Ziel die Stadtkommandantur (jenes Areal, auf dem rund zwanzig Jahre später ein Major Putin tätig werden sollte), wo der Sachverhalt noch so rechtzeitig aufgeklärt werden konnte, dass mein Leitartikel für den Druck zurechtkam – zeitlich allerdings äußerst knapp und daher ohne die Freigabe des Chefredakteurs oder gar eine Konsultation mit „ der Partei“ . Das war unüblich und nicht ganz folgenlos.
Denn meine Lehren wurden nicht von allen Seiten als zutreffend beurteilt. Und schon, die Zeitung selbst war nicht mehr zu stoppen, begannen Aussprachen dazu – durchaus im Sinne des Wortes, keineswegs Standgerichte. Die inhaltliche Diskussion wurde mit Argumenten bestritten. Von Weiterungen im Hintergrund erfuhr ich erst Jahre später. Als ich wenige Monate nach den Ereignissen wieder an das Journalistische Institut nach Leipzig beordert wurde, hatte ich jedenfalls nicht im Vorderkopf, das könnte mit dem 17. Juni zu tun haben.
Das direkte journalistische Ergebnis war seinerzeit eine in der nächsten Ausgabe veröffentlichte Revision der „Lehren“ meines Leitartikels – verständlicherweise von einem anderen Autor und nun unter dem Titel: „Erst alle Provokateure fassen – dann diskutieren“. Aus heutiger Sicht hätten sich beide Positionen womöglich auch ergänzen können …
Das ist (m)ein Bericht vom 17. Juni 1953 in Dresden – von einem Tag aus meinem Leben.
Schlagwörter: 17. Juni 1953, Herbert Bertsch